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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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hünenhaften Jungen, dem größten, den er je gesehen hatte, gerade im Begriff, einem interessierten Mann mit heiterer Gelassenheit zu erklären, wie er ihm den Arm zweimal brechen könnte. Samsons Augen blieben an einem Mädchen hängen, das über den Gang gebeugt auf dem Lack roter Fingernägel kaute, eine von denen, die aussahen, als hätten sie die letzte Nacht nicht im eigenen Bett verbracht. Hätte sie aufgeblickt und ihn beim Starren erwischt, hätte er weggesehen, aber ihre Augen hafteten am Boden. Samson beobachtete sie bis zur Haltestelle 116th Street, wo sie aufstand und ihm einen treffsicher einstudierten gelangweilten Blick zuwarf, ehe sie verschwand. Samson schloss die Augen, und der Zug donnerte weiter durch die Dunkelheit.
    Er konnte nicht umhin zu starren. Das erzählte er Lavell, worauf dieser einen berühmten Fotografen mit der Aussage zitierte, Starren sei das beste Mittel, um das Auge zu trainieren. Wenn jemand von etwas sprach, was Samson unbekannt war, fragte er oft nicht. Später würde er es nachschlagen. Er hing an Informationen, die er aus Büchern oder, besser noch, aus Zeitschriften beziehen konnte. Er verbrachte seine Zeit damit, zu lesen, was ihm in die Hände fiel.
    Lavells Büro befand sich an einem fast vergessenen Gang des Neurologischen Instituts, mit einem Besenschrank am toten Ende. Auf dem Weg dorthin begegnete Samson einer Frau in Krankenhaushemd und rutschfesten Socken, die mit nervtötender Genauigkeit Mimik und Gesicht eines jeden, der vorüberging, nachahmte. Er versuchte wegzuschauen, doch aus dem Augenwinkel sah er sie ebenfalls wegschauen und sein Ausweichen karikieren.
    Lavell hatte schon so viele Jahre am hintersten Ende des Flurs verbracht, dass sein Zimmer trotz weitläufiger Ausmaße beengt wirkte. Die Wandregale waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern voll gestopft. Jede Oberfläche, auf der keine Papiere herumlagen, war mit medizinischen Accessoires bedeckt. Es gab Plastikmodelle des menschlichen Gehirns mit abnehmbaren Hälften, eine phrenologische Keramikbüste nach L. N. Fowler mit den psychogeographischen Regionen des Schmeichelhaften, der Jugendlichkeit, des sprühenden Verstandes. Ein Skelett stand neben einer weißen Magnettafel, auf der Lavell seinen Patienten manchmal Sachen illustrierte. Hier und dort lag etwas Spielzeug für Kinder, die zu ihm kamen, eingeschlossen im schalltoten Raum des Autismus.
    «Wer ist die Frau?», fragte Samson, während er sich auf den Stuhl setzte, den der Doktor ihm mit einer Handbewegung zuwies.
    «Welche Frau?»
    «Die Besessene im Flur.»
    «Marietta? Sie leidet unter Tourette – ein besonders schwerer Fall. Daher dieser Tic. Sie hat den unwiderstehlichen Impuls, alles nachzuahmen, was sie sieht.» Lavell hob einen Stummelfinger und rieb sich die Augenbraue. «Ein Kollege, tüchtiger Kerl, hat eine Fallstudie über sie geschrieben. Ob das Individuum Marietta wirklich existiert oder ob die überwältigenden, alles vereinnahmenden Impulse nur noch das Trugbild eines Menschen übrig lassen.» Er listete die großen Ticker aller Zeiten auf, einzeln und namentlich wie Rekordhalter in der Baseball Hall of Fame. Dann erzählte er von einem alten Medizinbuch, das mit der anonymen Denkschrift «Bekenntnisse eines Tic-Kranken» begann. «Haben Sie seit der Operation daran gedacht, selbst etwas zu schreiben? Tagebuch zu führen oder so?»
    Samson war sich bewusst, dass Lavell das Gespräch absichtlich hier- und dorthin lenkte, dass er die leeren Schächte seines Geistes ausleuchtete. Aber er genoss ihre Unterhaltungen; Lavell schien nichts von ihm zu erwarten. Samson hatte das Gefühl, er könnte tun und sagen, was er wollte, auf dem Stuhl kauern oder wie ein Affe herumhampeln und Huuu! Huuu! kreischen, es würde Lavell keinen Kommentar entlocken.
    Ein großer Asiate mit gesträubten Haaren öffnete die Tür und rief ein stakkatohaftes «Hei! Wie geht’s? Hei! Wie geht’s?» herein.
    «Gut», erwiderte Lavell knapp und wandte sein Augenmerk wieder Samson zu, redete weiter, bis der Mann leise die Tür zumachte und seiner Wege ging.
    «Und wie geht’s Ihnen ?», fragte er dann, indem er sich zurücklehnte.
    «Oh, ganz gut, glaube ich.»
    «Wie läuft es mit Anna?»
    Es gab so viel, was Samson hätte fragen mögen, wie oft ein durchschnittlicher Mann von sechsunddreißig Jahren täglich masturbierte beispielsweise und wie oft verheiratete Paare miteinander schliefen. Am liebsten hätte er Lavell einen ganzen Fragebogen
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