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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg
Autoren: Renate E. Daimler
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1. Kapitel
    Lilly mochte den Mann nicht, der neben ihr saß. Sein Parfum war so stark, dass sie den penetranten Geruch als Übergriff empfand. Er war ihr schon im Warteraum in Orly unangenehm aufgefallen. Die meisten der Geschäftsleute, die auf den Lumpensammler, wie die letzte Abendmaschine nach Wien genannt wurde, warteten, schienen ihn zu kennen. Er bewegte sich in dieser nüchternen Umgebung mit raubtierhafter Geschmeidigkeit, so als ob er der Gastgeber einer Party wäre, die der Vernetzung dient. Er schüttelte Hände, führte Gespräche und stellte mit ausholenden Gesten die einen den anderen vor. Jedes Mal, wenn er von einer Gruppe zur nächsten ging, hob sie den Blick von ihrer Zeitung und folgte irritiert dem Klack-Klack seiner eisenbeschlagenen Schuhsohlen.
    Das Flugzeug war eine alte Vickers Viscount. Es roch nach Putzmittel und Metall, und Lilly sah zu, wie die Propeller immer schneller rotierten und sich dem anstrengenden Akt unterwarfen, einige Tonnen Metall in die Luft zu bringen. Sie schloss die Augen und klappte zufrieden ihr Notizbuch zu. Morgen würde sie das Material, das sie aus Paris mitgebracht hatte, in der Redaktion sichten und eine gute Story daraus machen. „Die Kinder des Mai ‘68“. Sie war selbst eines dieser Kinder gewesen und konnte eigene Erfahrungen beisteuern, politische und erotische. Sie dachte an Michel. In den letzten Tagen in Paris war er plötzlich wieder ganz nah gewesen.
    Damals war sie erst achtzehn und er einer der Revolutionäre auf den Barrikaden. Er war kein wirklich schöner Mann und mindestens zwanzig Jahre älter als sie. Lilly hatte in ihrer Chamb­re de Bonne , einer Dachkammer im letzten Stock eines Pariser Bürgerhauses, in dem sie als Au-pair-Mädchen arbeitete, jede Nacht auf ihn gewartet. Wenn er kam, waren seine Kleider oft zerfetzt und schmutzig, und sie hatte ständig Angst um ihn. Der erfahrene Franzose hatte sie, das kleine Mädchen aus der österreichischen Provinz, in die hohe Kunst der Liebe eingeführt. Sie wusste nichts von diesen Dingen, außer, das hatte ihr der Pfarrer schon im Religionsunterricht beigebracht, dass der Zungenkuss eine Todsünde war. Von Michel erfuhr sie zum ersten Mal, dass ihre Genitalien nichts Schmutziges waren, mit ihm verlernte sie die Scham, wenn seine Zunge ihren Körper zärtlich an Stellen liebkoste, die ihr selbst fremd waren. Sie war eine gelehrige Schülerin, und als Lillys Studienjahr der Romanistik an der Sorbonne zu Ende ging, sprach ihr Mund französisch in vielen Varianten.
    Das Flugzeug hatte sich beruhigt. Es zitterte nur noch ganz leicht von seiner Anstrengung, sich über die Schwerkraft zu erheben, und hatte seine Reiseflughöhe schon fast erreicht. Lilly spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht und öffnete die Augen. Er war klein, und auf seinem trainierten, gedrungenen Körper saß ein runder Kopf auf einem kurzen Hals. Seine Augen waren ­schmal und schiefergrau, die große Knollennase passte nicht zu seinem kleinen Mund. Seine kurzen, breiten Hände lagen entspannt auf seinen Oberschenkeln, und als er sie jetzt anlächelte, erinnerte er sie an Jack Nicholson in einer seiner Rollen als Insasse einer Irrenanstalt. Der Mantel, den er trug, obwohl es im Flugzeug warm war, war aus feinstem Tuch und hatte ausgebeulte Taschen.
    Er taxierte sie ungeniert und Lilly senkte unter seinen kundigen Augen den Blick. Sie wusste, dass sie nicht schön, aber sehr apart war. Lilly war ein Meter achtzig groß, sehr schlank und konnte ihr Herausragen aus dem Durchschnitt inzwischen genießen. Als Jugendliche hatte sie ihre Locken gehasst und ausgeföhnt, jetzt trug sie ihr schulterlanges, dunkelbraunes Haar als wilde Mähne und betonte ihr schmales Gesicht mit den großen, grauen Augen, der schmalen, geraden Nase und dem etwas zu großen Mund nur mit einem roten Lippenstift.
    Seine Augen glitten von ihrem Gesicht auf den Hintern der Flugbegleiterin. Sie schob einen Trolley mit Getränken an ihnen vorbei und zeigte mehr Bein, als ihrer Optik guttat. Sein Blick kehrte zurück, und als er nach seiner Zeitung griff, war klar, dass das Intermezzo noch nicht vorüber war. Sie hatte sich inzwischen an sein starkes, männliches Parfum gewöhnt und vertiefte sich wieder in ihre Notizen.
    Während sie las, spürte sie seine Nähe so stark, dass sie schon eine Sekunde später ihren eigenen Text vergessen hatte. Sie
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