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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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vielleicht nicht merken oder es wäre ihr egal. Die heiße Julisonne brannte ihm auf den Rücken. Er zielte auf die Ecken, höher oder tiefer als normal, und bald beschimpften ihn die Jungen, er verschenke seine Bälle. Aus Spaß warf er einem den Ball von hinten auf die Beine. Der andere warf doppelt so hart zurück, traf Samson mitten in den Bauch. Er krümmte sich theatralisch in übertriebenem Schmerz, doch als die beiden näher kamen, sprang er auf und preschte an ihnen vorbei zum Wasserschlauch. Mit einem Ruck aus dem Handgelenk drehte er ihn auf, und während sich das warme Wasser langsam seinen Weg durch die grüne Schlange bahnte, traten die Jungen den Rückzug aus der Einfahrt an. Das Wasser kam gerade rechtzeitig; den Daumen auf der Düse, um den Druck zu verstärken, nahm Samson sie unter Beschuss. Er sah ihnen nach, wie sie fluchend die Straße hinunter verschwanden, in triefenden, bis auf die Haut durchschimmernden T-Shirts, während das von ihren Beinen tropfende Wasser eine Spur auf dem grauen Asphalt hinterließ. Er brachte den Rest des Sommers damit zu, vor den Spritzpistolen und Wassereimern der beiden davonzurennen, barfuss durch das stechende Gras, über Zäune und durch Hintergärten, auf der Suche nach dem nächsten Pool, in den er springen könnte, um ihnen den Spaß zu verderben.
    In seiner Erinnerung rannte er oft. Auf der von staubigen Eukalyptusbäumen gesäumten Straße segelte er an den Häusern vorbei, vorbei an Shreiners Tennisplatz, wo Mr.   Shreiner um sich schlagend die Endlosrunden der stetig feuernden Ballmaschine retournierte, vorbei an der von Glyzinien eingeschnürten Gartenlaube der Reids, am Schulhof, an Berghängen. Er flog an seiner Mutter vorbei, die mit einem zusammengeklappten Buch auf dem Schoß im Liegestuhl lag. Manchmal rannte er so schnell, dass er fühlen konnte, wie der harte Boden bei jedem Schritt in seinen Schienbeinen explodierte und die Lungen japsten; andere Male war es ein gemächlicher Trab, ein Tempo, das er ewig durchzuhalten glaubte, durchs ganze Land, über die Staatsgrenze hinaus oder bis nach Los Angeles. Wohin rennst du?, fragte seine Mutter, wenn er die Treppe hinuntertrampelte und im Laufen mit den Armen in sein T-Shirt fuhr. Aber da war er schon durch die Tür, hinaus in den Marathonsommer.
    Sofern er nicht rannte oder mit den beiden Jungen spielte, war er vollkommen still. Manchmal lag er erschöpft stundenlang auf dem Rücken, wo immer er innegehalten hatte, und las, was immer in Reichweite war. Was ist los mit dir?, fragte seine Mutter, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und ihn auf dem Küchenboden liegen sah, einen geöffneten Karton Orangensaft noch auf der Anrichte. Aber entweder las er weiter, oder er wälzte sich herum, drückte zärtlich ihre Fußgelenke, sprang auf und stürmte an ihr vorbei zum Swimmingpool in Nachbars Garten oder, auf den Verdacht hin, sie könnte gerade aus der Tür treten, zum Haus von Jollie Lambird, für die er seit dem zweiten Schuljahr schwärmte. Und so, während er durch seinen zwölften Sommer rannte, verschwanden Samsons Erinnerungen mitten im Schritt ins Leere.
     
    Zuerst hörten die Ärzte aufmerksam zu, wenn er diese Erinnerungen erzählte. Aber binnen einer oder zweier Wochen, nachdem sein Fall in erhabenen Runden diskutiert und bestaunt worden war, wurde er ad acta gelegt, und die Ärzte schienen das Interesse zu verlieren. Die Weiterbehandlung sollte ein Neurologe namens Dr.   Lavell übernehmen. Eine Kollegin aus Las Vegas, eine Frau, die Lavell aus ihrer gemeinsamen Assistenzzeit kannte, hatte ihn ein paar Tage nach dem Eingriff wegen Samson angerufen. Bei ihrem ersten Treffen befestigte Lavell Elektroden an Samsons Kopf und forderte ihn auf, Fragen zu beantworten, während er die Spannungen seiner Gehirnströme auf dem Bildschirm verfolgte.
    «Und, was schließen Sie aus alledem?», fragte Samson, als Lavell mit der Untersuchung fertig war.
    «Dass Sie ein denkender Mensch sind.»
    «Sonst noch etwas?»
    «In Ihrem Fall nicht allzu viel. Wir wussten bereits, dass wir es mit einem hoch entwickelten Verstand zu tun haben.»
    Lavell wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Schließlich sagte er: «Aber schön ist es, oder?» Beide verharrten in schweigender Betrachtung.
    «Wissen Sie, was ich eben gedacht habe?», fragte Samson.
    «Sagen Sie’s.»
    «Ich dachte, was wohl wäre, wenn man allein an diesem Zickzack genau ablesen könnte, was in jemandes Kopf vorgeht.»
    «Die Gedanken selbst? Ja,
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