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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Frank mit klimpernder Hundemarke um die Ecke bog, den Kopf schief stellte und ihn ansah.
    «Pssst», flüsterte Samson.
    Frank eilte herbei, drehte sich um und setzte sich zu Samsons Füßen. So verharrten sie einen Augenblick, beide zur Tür gewandt. Samson beugte sich hinunter und tätschelte ihn.
    «Na, mein Freund.» Frank hechelte ihm ins Gesicht.
    Samson knipste eine Lampe an. Das Wohnzimmer war übersät mit zerknüllten Cocktailservietten und Plastikbechern von der Willkommensparty, die Anna am Nachmittag gegeben hatte. Sie hatte Samson nichts gesagt, bis es klingelte und die ersten Leute hereinströmten, vollkommen Fremde, soviel er wusste, die ihn umarmten und ihm inständig die Hand drückten, Schlange standen, um ihn zu begrüßen, während er wie eine Art verrückter Nikolaus käsebleich im Lehnstuhl saß. Jeder blickte ihn in der erwartungsvollen Hoffnung an, der Einzige zu sein, den er wiedererkannte, als wäre das Knacken seiner Erinnerung ein Millionen-Dollar-Spiel.
    Von Anfang an war offensichtlich, dass die Party ein Missgriff war. Ein Grüppchen stand verlegen bei Salzgebäck und Käse. Ein paar Kinder schlichen ihren Eltern um die Beine, ein nervöses Lächeln im Gesicht, als hätte man ihnen gesagt, sie gingen einen kranken Mann besuchen, der um keinen Preis an seinen Tod erinnert werden dürfe. Und Samson selbst erkannte nicht nur niemanden, er konnte nicht einmal dem Anschein nach irgendjemandes Namen erinnern, auch nicht, nachdem die Person sich vorgestellt hatte, und so gingen die Leute in den kurzen zwei Stunden der Party dazu über, lauthals ihre Namen zu verkünden, ehe sie ihn ansprachen, als wäre er nicht nur mit Gedächtnisverlust, sondern auch mit Taubheit geschlagen. Zuerst, als er begriffen hatte, dass diese freundlichen Menschen etwas mit ihm zu teilen hofften, war Samson so kooperativ wie möglich gewesen, hatte gelächelt und ein Kind auf den Schoß genommen. Aber bald wurde ihm das Stimmengewirr zu viel, er fühlte sich überfordert und schwindlig. Die Party nahm ein böses Ende, als Samson sich im Klo einschloss und dem unentwegt an der Tür rüttelnden Kind sagte, es solle doch bitte woanders Pipi machen gehen, ihm sei schlecht.
    «Tut mir Leid», hatte Anna durch die Tür geflüstert, nachdem alle fort waren, «es tut mir ja so Leid.» Samson hatte aufgeschlossen, und als er ihre Augen voller Tränen sah, glaubte er, sie bräche zusammen, wenn er sie nicht in die Arme nahm.
    Jetzt ging er durch das leere Wohnzimmer und inspizierte seinen Inhalt, wie man es tun mag, wenn man im Haus eines Fremden allein gelassen wird. Im Regal stand ein Foto von ihm, auf einer niedrigen Steinmauer sitzend, mit einem Schimmer roter Blätter hinter sich. Er nahm es in die Hand und erforschte sein Gesicht nach Hinweisen, woran er beim Klicken des Auslösers gedacht haben mochte. Er erinnerte sich an seinen Schock, als er im Alter von drei Jahren eine Fernsehshow gesehen und sich selbst auf dem Bildschirm erblickt hatte, wie er im Studiopublikum zwischen anderen Kindern mit untergeschlagenen Beinen am Boden saß. Die Kamera fokussierte sein Gesicht. Er hatte niemandem davon erzählt. Es war geschehen, dessen war er sich ganz sicher. Er war an zwei Orten zugleich gewesen, und viele Jahre hatte er insgeheim mit der Gegenwart dieses anderen Selbst, das sich irgendwo herumtrieb, gerechnet. Aber nie wieder war er auf eine Spur von ihm gestoßen, und mit der Zeit schwand der Glaube an sein anderes Ich wie ein eingebildeter Freund dahin, bis er es ganz vergaß.
    Er nahm ein Foto nach dem anderen und betrachtete sie gründlich. Er fand es am einfachsten, wenn er sich den Mann darauf nicht als sich selbst, sondern als einen Fremden vorstellte. Was nicht schwierig war, da er sich an sein eigenes Gesicht noch nicht gewöhnt hatte. Wenn er im Vorbeigehen seinen Widerschein im Spiegel sah, überkam ihn ein Brechreiz, der primitive Reflex eines Tieres, dessen Instinkt plötzlich versagt. Er wusste nicht, was er zu sehen erwartete. Sein Bewusstsein hatte noch kein Selbstbild geformt.
    Ihm war schlecht, gereizt machte er eine hastige Runde in umgekehrter Richtung und kippte alle Fotos mit dem Gesicht nach unten. Er fing an, in dem beengten Raum auf und ab zu tigern, als wäre er der wilde, von Wölfen großgezogene Junge, über den er als Kind gelesen hatte, er habe in der ersten Nacht, die er in einem Haus verbrachte, panisch auszubrechen versucht. Er ließ die Finger über die Buchrücken schleifen; es gab
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