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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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auf ihn zuging, wollte er ihr irgendwie gefallen oder sie wenigstens nicht noch mehr verwirren, als sie es ohnehin schon war.
    Als Anna den Schlüssel ins Schloss steckte, hörte er das aufgeregte Winseln eines Hundes, der von innen an der Tür scharrte.
    «Das ist Frank», sagte Anna, immer noch am Schloss fummelnd. Samson sah ihre Hand zittern und war gerade im Begriff, ihr Hilfe anzubieten, als der Schlüssel sich drehte und sie die Tür aufstieß. Der Hund sprang Samson an, drängte ihn gegen die Wand.
    «Aus, Frank, ruhig», sagte sie mit einem leichten Ruck am Halsband. Frank drehte sich, um ihr die Hand zu lecken. Sie strich ihm über den Kopf, und er setzte sich, gehorsam unter ihrer Berührung, neugierig auf Samson schielend. Jedes Streichen zog die Brauen des Hundes nach hinten, riss ihm die Augen auf und verlieh ihm einen komisch verwunderten Ausdruck. Samson lachte, worauf Frank unter Annas Hand hervorschoss und ihn schnüffelnd und schnaubend mit tapsenden Pfoten begrüßte. Samson empfand ein dringendes Bedürfnis, die Arme um den Hundehals zu schlingen und sein Gesicht in den weichen Ohren zu vergraben, sich neben dem Tier zusammenzurollen.
    Anna machte Licht, und Samson und Frank folgten ihr ins Wohnzimmer. An den Wänden waren Hunderte von Büchern aufgereiht. Ein paar verblichene Teppiche bedeckten den Holzboden, und überall standen Sessel und Lampen, die Anna jetzt eine nach der anderen anknipste. Es war eine freundliche Atmosphäre, und während Samson sich umsah, versuchte er den Raum mit der Frau, die hindurchging, zu verbinden. Irgendwie war er wie sie, es bestand eine gewisse Übereinstimmung.
    Als das Zimmer vollständig beleuchtet war – wie eine Bühne , dachte Samson –, drehte sie sich zu ihm um. Sie hatte langes dunkles Haar und ein wechselhaftes Gesicht, bei jedem Hinsehen anders. Er hatte mitgehört, wie die Ärzte sie gewarnt hatten, sie solle nichts von ihm erwarten, ihn nicht bedrängen, sich doch Mühe mit dem Erinnern zu geben. Ihn nicht hoffnungsvoll, voller Erwartungen ansehen, wie sie es jetzt tat. Er blickte von ihr auf die Bücher, auf die Fensterbänke voller Pflanzen, und als er die Augen ganz fest zusammenpresste, war ihm, als flatterte etwas wie eine Taube aus dem Oberlicht seines Geistes. Er öffnete die Augen.
    «Hast du die alle gelesen?», fragte er. Annas Blick wanderte über die Regale.
    «Ich nicht, aber du», sagte sie.
     
    Später, an langen Nachmittagen in der Bibliothek, las Samson über Wunderheilungen, die Blinde sehend machen sollten. Als die Augenbinden abgenommen wurden, versammelten sich die Familien und warteten auf die Epiphanie, ein überwältigtes So also sieht es aus! Aber es kam nicht, weil Sehen nicht gleich Wahrnehmen ist. Die Umrisse, die von den soeben sehend Gewordenen registriert wurden, lösten in den auf räumliche Erfassung nicht vorbereiteten Gehirnen keine Reaktion aus. Farben hatten nichts mit ihrer Welt aus Ton und Zeit zu tun. Beim Lesen dieser Berichte – dem angehaltenen Atem, dem plötzlichen Lichtstrom, gefolgt von Verwirrung und Nichtwiedererkennen – fühlte Samson sich an seine ersten Tage zu Hause erinnert. Anna, die Zimmer ihrer gemeinsamen Wohnung, ihre Sachen: das alles konnte er sehen. Trotzdem haftete ihm keine Bedeutung an. So klar seine Kindheitserinnerungen auch sein mochten, schienen sie doch von außerirdischer Beschaffenheit, sodass ihm jetzt jedes Ding wie ein Archetypus seiner selbst vorkam, noch mit keinen Assoziationen und Erfahrungen verbunden.
    An Samsons zweitem Abend zu Hause war Anna erschöpft und schlief vor ihm ein. Er lag im Dunkeln, ruhig atmend, um sie nicht zu wecken. Von draußen drang das Geräusch durch den Regen spritzender Autos und von unten das Gelächter eines Fernsehers herauf. Er fühlte sich unwohl in ihrem Ehebett, konnte sich aber keinen anderen Ort denken, nach dem er sich gesehnt hätte. Obwohl er an die vielen Jahre, die seit seiner Kindheit vergangen waren, keine Erinnerung besaß, schien ihm das Zimmer, in dem er aufgewachsen war, Teil einer lange verschwundenen Welt zu sein. Trotz aller Unbeholfenheit und Verwirrung fühlte er sich nicht wie ein Zwölfjähriger, sondern wie ein Mann von sechsunddreißig. Nur wusste er nicht mehr, wie er geworden war, wer immer er jetzt sein mochte.
    Er war dankbar, nach den konfusen Tagen seit der Operation, dem langsamen Erwachen aus dem Vergessen zu den Fakten seiner Lage, endlich mit seinen Gedanken allein zu sein. Es gab so viel, was er
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