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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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nicht wusste – wie seine Mutter gestorben war, ob er Anna geliebt hatte, ob er ein guter Mensch gewesen war –, aber er hatte noch nicht den Mut oder gar die Fähigkeit zu fragen. Es war ihm noch ein Rätsel, wie er es anstellen sollte, die Distanz zwischen sich und einer anderen Person in Form einer Berührung, einer Frage zu durchbrechen.
    Er drehte sich auf die Seite, um Anna ins Gesicht zu sehen, sehr vorsichtig, damit sie nicht wach wurde. Zum ersten Mal war er in der Lage, sie wirklich zu betrachten, sie zu beobachten, ohne dass sein Blick ihre Augen traf, die immer etwas zu wollen schienen. Obwohl er seine Lage allmählich zu begreifen begann, fühlte er sich eher, als hätte die Zeit ihn und nicht er die Zeit vergessen. Als wäre er in einem anderen Leben eingeschlafen und hätte sich am Seil eines festen Herzschlags irgendwie in dieses hinübergehangelt, sodass er noch etwas von dem ahnte, woher er kam und wer er war. Das Seltsamste unter all den Dingen, die man ihn zu glauben bat, war, dass es seine Frau sein sollte, die jetzt neben ihm schlief.
    Während er sie ansah, schlaff und feucht im Schlaf, versuchte Samson sie wiederzuerkennen. Er betrachtete ihre nackten Arme, die gekrümmten Finger, dann schloss er die Augen und suchte danach. Er presste die Dunkelheit nach etwas von ihr aus, das wie eine Spur Parfüm zurückgeblieben sein könnte.
    Er rückte näher. Wollte sie anfassen, um zu fühlen, wie er gewesen war. In die Rolle des Samson Greene schlüpfen wie ein Filmschauspieler, der Kleidung und Auto eines anderen nimmt, in dessen Schuhen gehen. Als könnte er, mit der Hand auf der Wölbung ihrer Hüfte die Gesten Samson Greenes nachahmend, in seine Vergangenheit gehen. Es gibt so etwas wie ein sinnliches Gedächtnis, das Empfinden von kalt, scharf oder weich, und er fragte sich, ob nicht irgendwo in ihm das Gefühl von Anna sei.
    Er konnte sie jetzt riechen, einen schwach süßlichen Geruch. Ihre Brust hob und senkte sich beim Atmen, auf dem Baumwollhemd malte sich die Form ihrer Brüste ab. Wie oft mochten seine Finger sie abwesend gestreift haben, ohne dass sie überrascht zurückgezuckt war? Wenn er jetzt seine Hand nach ihnen ausstreckte, würde ihr Körper sie dann an sich heranlassen oder irgendwo, tief in seiner eigenen Geschichte tausendfacher Berührungen, den Unterschied spüren? Würde sich der kluge Körper auf die Seite drehen, von ihm abwenden, unversöhnlich? Im Krankenhaus und seit sie zu Hause waren, hatten sie einander kaum berührt. Er hatte seine Hand nicht nach ihr ausgestreckt, und sie musste gemerkt haben, wie steif und unbehaglich sein Körper im Umgang mit ihr war. Ihm war wohler, wenn er den Hund streichelte. Als sie vor dem Schlafengehen angefangen hatte, sich umzuziehen, war es ihm peinlich gewesen, dass sie aufgeblickt und ihn dabei ertappt hatte, wie er sie anstarrte. Im halbdunklen Zimmer hatte ihr blasser Körper ihn schockiert.
    Wenn er sie sich jetzt einprägte, würde er sich morgen bei ihrem Anblick erinnern. Das war es, was Anna wollte. Er begann mit ihrem Gesicht, dem Bogen ihrer Augenbrauen. Wie verliefen sie genau? Ein Bild von seiner Mutter kam ihm in den Sinn, die Art, wie sie erstaunt die Brauen hob. Er erinnerte sich an eine Kiste voller Marionetten, mit denen er als Kind gespielt hatte. Er stellte sich Fäden an Annas Augenbraue, an den Schultern, Ellbogen, Fingern vor. Wie wäre es, wenn sie sich jetzt regte, wenn sie aufstünde und zum Fenster ginge? Im Schatten der Straßenlaternen würde er den Faden an ihrem rechten Handgelenk hochziehen, es an ihre Wange heben und den oben am Kopf befestigten Faden locker lassen, bis sich ihr Gesicht in die erhobene Hand senkte. Seine eigene Hand schwebte jetzt über ihr, und der Wunsch, ihren Körper zu berühren, war so mächtig, dass er zu ersticken glaubte. Er begann, die Hand zu senken, hatte Anna aber noch nicht erreicht, als sie sich zu ihm hinrollte und ihren Kopf an seine Brust schmiegte. Er wurde starr vor Schreck, die Hand wie gefroren in der Luft über der leeren Matratze.
    Noch erhobenen Armes rutschte er über die Kante aus dem Bett. Er fühlte sich albern und beschämt, und als er die Schlafzimmertür geschlossen fand, schien der Raum sich um ihn zusammenzuziehen. Ihn überkam ein unbändiges Bedürfnis, draußen zu sein. Er drehte den Knauf und schlüpfte ins Wohnzimmer, näherte sich mit pochendem Herzen der Eingangstür.
    Ein Geräusch in der Küche stoppte ihn. Wie angewurzelt stand er da, als
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