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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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zu tun hatte. Die besonderen Umstände in seinem Fall – retrograde Amnesie, die den Verlust aller spezifischen Erinnerungen an die Zeit vor dem Eingriff bewirkte, während die Erinnerungsfähigkeit selbst noch funktionierte – waren höchst ungewöhnlich. Obwohl Samson seine ganze Biographie vergessen zu haben schien, wusste er doch, dass die Blumen auf dem Nachttisch Amaryllis hießen und dass Anna, die Frau, die an seinem Bett stand, sie ihm mitgebracht hatte. Als sein Blick eine Woche nach der Operation beim Aufschlagen der Augen auf diese durchsichtigen weißen Blüten gefallen war, hatte sich etwas wie das Bruchstück eines Traums gelöst und war an die Oberfläche seines Bewusstseins gedrungen.
    Was ihn verblüffte, war die lebhafte Farbe der Erinnerung, ein leuchtendes Blau. Es war überall, rings um ihn her, warm und weich, und während er sich hindurchbewegte, dem glühenden Licht entgegen, hörte er gedämpfte Töne, die aus großer, unüberwindlicher Entfernung zu kommen schienen. Er verspürte ein Glücksgefühl, trotz des langsam zunehmenden Drucks auf seine Lungen, der ihn schließlich nach oben trieb. Er erinnerte sich an den Schreck über die kalte Luft, als er mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche stieß, und wie sich ihm plötzlich die Welt in vollkommener mikroskopischer Klarheit darbot: die Grashalme, der Abendhimmel, die triefenden Gesichter zweier Jungen im Licht der Scheinwerfer am Pool. «Dreiundvierzig Sekunden», rief der eine mit einem Blick auf die Uhr, dann preschte er über das Sprungbrett, hüpfte in die Luft und presste die Knie zusammen, ehe er laut platschend im Wasser versank.
    In den Tagen nach der Operation kamen ihm mit zermürbender Präzision immer wieder solche Kindheitserinnerungen in den Sinn. Es war, als hätten sich seine Augen, irritiert über die Außenwelt, mit der Öffnung nach innen gekehrt und begonnen, wie eine Camera obscura perfekte Bilder auf die weiß getünchten Wände seines Geistes zu werfen. Die Haarrisse einer Zuckerschale auf dem Küchentisch. Der durchs Blattwerk einfallende, Schatten auf seine Finger werfende Sonnenstrahl. Die Wimpern seiner Mutter. Anna war überglücklich gewesen, hatte jedes Mal seine Hand gedrückt, wenn er ihr beschrieb, an was er sich erinnern konnte. Das war sie zuerst, diese Frau, die tagein, tagaus an seinem Bett saß, deren schmale Handgelenke er mit zwei Fingern umfassen konnte: ein Publikum für seine Erinnerungen. Und obwohl es ihn beunruhigte, dass sie über viele Jahre und Orte dieser Erinnerungen Bescheid wusste wie eine wohl informierte Agentin, fuhr er mit seinen Erzählungen fort, weil er spürte, dass sie ihm helfen konnte. Wieder und wieder beschrieb er ihr seine Mutter in der Hoffnung, Anna werde sie finden und zu ihm bringen. Als er fragte, warum seine Mutter nicht kam, hielt sie sich den Mund zu und schaute weg.
    «Ich liebe dich», flüsterte sie und begann es ihm in stockenden Sätzen unter laufenden Entschuldigungen zu erklären. Er konnte nicht alles aufnehmen, was sie ihm zu sagen versuchte. Doch als sie sagte, seine Mutter sei gestorben, empfand er das wie einen glatten Knochenbruch, und ihm entfuhr ein Laut, den er nicht kannte. Als er zu erschöpft war, um noch länger zu weinen, lag er still da, und sein ganzes Sein strömte in den flachen Puls des still gewordenen Herzens.
    Anna blieb hoffnungsvoll, trotz der ärztlichen Warnungen, die Wiederkehr der Kindheit bedeute nicht zwangsläufig auch die Rückkehr späterer Erinnerungen. So etwas komme vor, sagten sie. Als wäre die Bewahrung dieser frühen Jahre so entscheidend, dass sie den Schutz einer anderen Gehirnfunktion genossen, behütet genug, um intakt zu bleiben, wenn das übrige Gedächtnis durch ein Trauma erlosch. Und so schien es bei Samson zu sein, dessen Erinnerungen sich über das Alter von zwölf Jahren hinaus wie Fußstapfen in der Zukunft verloren.
     
    Als das Taxi vor dem Mietshaus hielt, stieg Samson aus, während Anna den Fahrer bezahlte. Verstört stand er an der Tür, unfähig zu begreifen, dass dies die Straße war, in der er fünf Jahre gelebt hatte, und davor zehn Blocks weiter südlich, und davor in Downtown, und noch davor in Kalifornien und so weiter zurück durch zahllose Räume mit ihrem je eigenen Licht, ihren verschiedenen Ausblicken. Der Glaube an sein vergangenes Leben war reine Höflichkeit: von der Art, wie man ihn im Gespräch mit Gläubigen vorschützt. Doch obwohl er fast nichts über die Frau wusste, die jetzt
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