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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Nashville am Checkout-Tresen. Er hielt die Geldbörse geöffnet und das Gesicht nach oben, mit einem Ausdruck, friedlich und versunken wie ein Kind.
    Während Anna aus dem Flugzeug hinuntersah auf die zerfurchte Masse von Nevada, durch die eine glitzernde Ader nach Vegas führt, studierte der Neurologe, ein gewisser Dr.   Tanner, die Computertomographie von Samsons Gehirn. Bis Anna das Krankenhaus erreichte, zerzaust, einen kleinen Koffer hinter sich her rollend, ohne sich noch zu erinnern, was für Sachen sie hineingepackt hatte, wurde bei Samson ein Tumor diagnostiziert, der über all die mit Arbeit oder Schlaf verschwendeten Monate einen willkürlichen, gefährlichen Druck auf sein Gehirn ausgeübt hatte. Die Hitze während der Fahrt vom Flughafen war schon im Mai schier unerträglich gewesen. Jetzt fröstelte Anna im klimatisierten Krankenhaus, das feuchte Shirt klebte ihr am Rücken. Sie konnte nicht begreifen, und noch konnte ihr niemand erklären, wie Samson dorthin gekommen war, wo man ihn gefunden hatte, irgendwo in Nevada. Unter großen Schwierigkeiten registrierte sie die Worte Dr.   Tanners, der ihr jetzt gegenübersaß. Er ist ungefähr kirschengroß und drückt auf den Schläfenlappen seines Gehirns, wahrscheinlich ein juveniles pilozytisches Astrozytom. In ihrem eigenen – klaren, nicht von Krankheit bedrohten – Kopf stellte Anna sich das glänzende Dunkelrot einer Kirsche inmitten der grauen Hirnmasse vor. Einmal, es war fünf oder sechs Jahre her, waren sie in Connecticut von der Straße abgefahren und einem handgemalten Schild gefolgt, auf dem Kirschen pflücken stand. Mit zwei Körben und fleckigen Fingern waren sie durch den frühen Sommerabend zurückgefahren, die Fenster weit geöffnet, um den Duft frisch gemähten Grases hereindringen zu lassen. Während sie Dr.   Tanners Stimme und seinen geduldigen, zuvorkommenden Pausen lauschte, hatte Anna das Gefühl, er sei ein glücklicher Mann, einer, der im schallgedämpften Auto bei klassischer Musik nach Hause fahren würde zu seiner Frau mit ihrem hellen, leichten Lachen – ein Mann, der nicht jeden Tag in Gedanken an das Häuflein Elend erwachte, das er am Abend auf dem Stuhl zurückgelassen hatte. Sie beneidete ihn, beneidete die Schwestern, die durch die Halle gingen und am Morgen glücklich genug gewesen waren, ihre gestärkten Kleider anzuziehen, beneidete die Sanitäter und den Hausmeister, der seinen grauen Wischlappen über den Linoleumboden schob.
    Dr.   Tanner fuhr fort: Nach dem Eingriff werden wir das Gewebe untersuchen und hoffen, es ist gutartig, ein Wort, dachte Anna, das, wie Samson ihr einmal auseinander gesetzt hatte, schlecht klingt wie alle Euphemismen. Dr.   Tanner drehte die CT-Aufnahme um, schob sie über den Tisch zu ihr hinüber und beugte sich im Sitzen vor, um mit der Kappe seines Federhalters Samsons Gehirn zu umreißen. Auf einer gelben Insel in einem Kontinent von Blau ließ er die Kappe ruhen. Im Augenblick scheint bei ihm eine Art Autopilot zu funktionieren, erlernte Kenntnisse, die so eingeprägt sind, dass er allein durchs Land ziehen konnte. Ob einige oder alle Gedächtnisfunktionen dauerhaft zerstört sind oder ob der Eingriff selbst einen solchen Schaden anrichten wird, ist unmöglich vorauszusagen. Anna blickte aus dem Fenster auf die mit stetig rieselnden Sprinklern immergrün gehaltene Krankenhauslandschaft. Sie war einunddreißig Jahre alt. Seit fast zehn Jahren war sie mit Samson zusammen. Sie dachte an die Zeit, als er vor Zahnschmerzen geweint, und unerklärlicherweise auch an die, als er ihr zum Geburtstag Blumen geschickt hatte, aber am falschen Tag. Sie wandte sich wieder Dr.   Tanner zu und erforschte sein Gesicht. Wie stehen die Chancen, wenn Sie den Tumor entfernen und er gutartig ist, sagte sie schließlich, wird er dann wieder gesund? , obwohl sie mit gesund eigentlich der Alte meinte. Ich glaube, Sie haben nicht richtig verstanden, sagte Dr.   Tanner in einem mitfühlenden Ton, der manchmal für Mitleid gehalten wird. Wahrscheinlich ist sein Gedächtnis zerstört. Er legte eine Pause ein, eine tiefe ärztliche Pause, während seine Finger immer noch leicht auf Samsons Gehirn ruhten. Wahrscheinlich wird er sich nicht erinnern, wer Sie sind.

W as er vom ersten Augenaufschlag in Erinnerung behalten hatte, war die Uhr an der Wand, die 3   :   30 zeigte. Er musste noch eine Weile von einer Bewusstlosigkeit in die andere gefallen sein, denn als er wieder aufwachte, war die Uhr fort und er
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