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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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in einem Raum mit einem Fenster, dessen Vorhänge zurückgezogen waren, um die Sonne hereinzulassen. Später versuchte er sich genau zu erinnern, was er in diesen ersten Stunden gefühlt und gedacht haben mochte, aber im Unterschied zur scharfen Klarheit alles Folgenden war ihm vom Erwachen aus der Narkose nur ein verschwommener Eindruck geblieben. Er wollte sie zurückrufen, diese ersten, reinen, abgehobenen Momente, als etwas aus seinem Gehirn entfernt worden war, dessen Platz sich wie ein Luft ansaugendes Vakuum mit Leere gefüllt hatte. Obwohl es keine andere Bezeichnung dafür gab, war es nicht das Gleiche wie Vergesslichkeit. Das versuchte er Anna zu erklären, nachdem er mit der Zeit wieder gelernt hatte, was Vergessen überhaupt bedeutete; es war anders als eine Armamputation, bei der man immer noch ein Kribbeln in Phantomfingern spürt. Beide, die Erinnerung und ihre Spuren, waren weg, vollständig ausgelöscht, und genau das konnte Anna nicht verstehen, sein fehlendes Bedauern. Aber wie soll man bedauern, was für den eigenen Verstand nie existiert hat? Sogar Verlust ist eine unzutreffende Beschreibung, denn was ist Verlust ohne ein Bewusstsein des Verlierens?
    Wochen später saß Samson mit kahl geschorenem, über dem Schnitt bandagiertem Kopf, den großen Umschlag mit den CTs auf den Knien, neben Anna im Flugzeug nach New York. Er hatte acht Kilo abgenommen, und die Sachen, die er trug – das Einzige, was Anna in den Billigläden nahe dem Krankenhaus hatte finden können –, waren altmodisch und passten ihm nicht richtig. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Anna ihn anstarrte, aber er fürchtete, sie würde anfangen zu weinen, wenn er mit ihr spräche. Er vertraute ihr, weil sie sich um ihn kümmerte und weil es sonst niemanden gab. Beim Landeanflug auf La Guardia deckte sie ihre Hand über die seine, und als sie den Boden berührten, blickte er auf ihre Hand und versuchte, etwas damit anzufangen. Während der Taxifahrt durch Queens las Samson, die Stirn ans Fenster gepresst, die Leuchtschrift auf den Schildern, die den Highway säumten. Als sie die Triboro Bridge überquerten und Manhattan sich gegen den Nachthimmel abhob, fragte Anna: «Erinnerst du dich?»
    «Von Filmen», sagte er und beugte sich vor, um besser zu sehen.
    Das gutartige Astrozytom, das sie aus seinem Gehirn entfernt hatten, wurde auf Objektträgern im Labor der pathologischen Abteilung des Krankenhauses aufbewahrt. Der Biopsie zufolge musste es über Monate, wenn nicht über Jahre unbemerkt langsam gewachsen sein. Es war das, was sie einen stillen Tumor nannten, ohne Symptome, die irgendjemanden auf sein Vorhandensein hätten aufmerksam machen können. Vor dem Zeitpunkt, da Samson in seinem Arbeitszimmer an der Universität ein Buch aus der Hand gelegt und mit ihm sein Gedächtnis geschlossen hatte, mochte es kurze Ausfälle gegeben haben, Momente, in denen die Erinnerung in ein schwarzes Loch gefallen war, ehe sie Sekunden später wieder auftauchte. Aber wenn das passiert sein sollte, konnte man es jetzt nicht mehr feststellen. Stetig war der Tumor in seinem Kopf gewachsen wie eine albtraumhafte Perle. An jenem Spätnachmittag im Mai war der Unterricht gerade aus gewesen, und während das Stimmengewirr der Studenten durch die offenen Fenster hereindrang, hatte er schließlich so viel Masse bekommen, dass das Gehirn dem anschwellenden Druck nicht mehr standhielt. Zwischen zwei Wörtern eines Buchs war Samsons Gedächtnis entschwunden. Vollständig, bis auf seine Kindheit, an die er sich erinnerte, als er Tage später in einem Krankenhaus in Nevada erwachte.
    Zuerst konnte er sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. Dennoch gab es Dinge, etwa den Geschmack von Orangensaft, die ihm vertraut vorkamen. Er wusste, dass es eine hübsche Frau war, die im roten Shirt an seinem Bett stand, obwohl er keine Vorstellung von weniger schönen Gesichtern besaß, gegen die ihres sich abgehoben hätte. Diese frühen Zeichen waren verheißungsvoll, und als die Ärzte ihn untersuchten, kam heraus, dass er sich nicht nur eine Art intrinsisches Gedächtnis von der Welt bewahrt hatte, sondern, bemerkenswerter noch, in der Lage war, neue Erinnerungen zu speichern. Er konnte sich an alles erinnern, was sich nach der Operation ereignet hatte. Den Ärzten schien das ein Rätsel, und bei Lehrvisiten verweilten sie lange in Samsons Zimmer. Sie spritzten ihm weiterhin Glukose, doch im Lauf der Tage wurde klar, dass sein Gedächtnisverlust nichts mit dem Ödem
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