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Kohlenstaub (German Edition)

Kohlenstaub (German Edition)

Titel: Kohlenstaub (German Edition)
Autoren: Anne-Kathrin Koppetsch
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beantwortest«, sagte er, »werde ich dir nichts tun. Ich heiße Marcel.«
    Er sprach gut
Deutsch, wahrscheinlich hatte Marcel eine höhere Schulbildung genossen.
Vielleicht war er ein zivilisierter Mensch, mit dem man reden konnte. Aber
warum hatte er das »ich« so betont? Wartete oben jemand anderes, der ihm etwas
antun wollte? In seiner Lage wäre er ihm hilflos ausgeliefert. »Nimm mir bitte
die Ketten ab!«, sagte er. »Die Eisenringe schmerzen, sie schneiden mir ins
Fleisch.«
    Unmerklich
schüttelte Marcel den Kopf. »Bei welcher Einheit dienst du?«
    »Was?«
    Marcel zog einen
Dolch. »Bei welcher Einheit dienst du?«
    Er verstand die
Drohung, aber vielleicht war das Verhör die einzige Chance, um hier lebend
herauszukommen. »Lässt du mich gehen, wenn ich antworte?«
    »Los jetzt, du
verdammtes Schwein! Noch mal frag ich nicht.«
    »Ist ja gut«,
stieß er hervor. »Ich diene beim vierten Königlich Preußischen Garderegiment zu
Fuß, erstes Bataillon, dritte Kompanie.«
    »Wie heißen deine
Führer?«
    »Ich versteh
nicht, warum … Mein Kompanieführer ist Secondeleutnant von Hellermann, sein
Stellvertreter Secondeleutnant der Landwehr Ramslau. Mein Bataillonskommandeur
ist Major von Sichart. Oberst von Neumann wurde bei Saint-Privat-la-Montagne
verwundet, deshalb haben wir einen neuen Regimentsführer – Major von Tietzen
und Hennig.«
    »Hast du auch bei
Saint-Privat gekämpft?«
    Natürlich hatte er
gekämpft. An der Erstürmung mehrerer Häuser und Straßenzüge war er beteiligt
gewesen, aber er spürte instinktiv, dass die Frage gefährlich war. »Keinen
Schuss hab ich abgefeuert«, log er. »Unsere Kompanie lag in Reservestellung.
Bei starken Verlusten sollten wir die Linie auffüllen, aber wir sind nicht zum
Einsatz gekommen.«
    »Ich hab
gekämpft«, sagte Marcel. »Mein Bruder auch, aber –«
    »Marcel! Der Krieg
zwischen Deutschland und Frankreich war nicht meine Idee. Wenn's nach mir
ginge, wären wir nie hergekommen. Ich will dieses Gemetzel nicht, ich bin ein
Menschenfreund, das musst du mir glauben.« Er leckte sich die spröden Lippen.
    Da quietschte die
Türangel erneut.
    Er hob den Kopf
und lauschte angestrengt. Die Stufen knarrten, aber nicht so laut wie beim
ersten Mal. Das konnte nur bedeuten, dass weniger Gewicht auf dem Holz lastete,
dass die Person also leichter war. Vielleicht stieg ein Kind oder – oh Gott! –
eine Frau herab. Seine Mundwinkel zuckten. »Wer ist das?«
    »Wir unterhalten
uns später, du Menschenfreund«, erwiderte Marcel und steckte den Dolch weg.
    »Ich kann Geld
beschaffen! Viel Geld – hörst du? Wenn du mich gehen lässt, kannst du es
haben.«
    Plötzlich sah ihn
der junge Franzose direkt an und sagte: »Ich hab versucht, es ihr auszureden.
Eine ganze Stunde lang, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
    »Wovon zum Teufel
sprichst du?«
    »Ich sagte, dass
sich eine große Seele nicht von niederen Gefühlen beherrschen lassen darf. Ich
sagte, dass man im Krieg Regeln einhalten muss. Wenn es nach mir gegangen wäre,
hätten wir ein Standgericht abgehalten und dich dann wie einen tollwütigen Hund
abgeknallt, aber sie …«
    In diesem Moment
humpelte eine junge Frau herein. Unter einer Arbeitsschürze trug sie ein
schlichtes blaues Wollkleid. Das blonde Haar reichte ihr bis zum Gesäß. Ihr
Gesicht ließ eine stolze Schönheit erahnen, aber die Züge waren kaum noch zu
erkennen. Ihre Augen waren zugeschwollen. Auf ihren Wangen prangten
Blutergüsse. Die Lippen waren aufgeplatzt, und der Hals wies Würgemale auf.
    Er kannte die
Frau. Zum ersten Mal hatte er sie auf dem Gutshof von Monsieur Wegener gesehen,
wo seine Kompanie nach Waffen gesucht hatte. Als sie sich entfernt hatte, hatte
sie sich von einem Stallburschen begleiten lassen, um sich vor den
Zudringlichkeiten der deutschen Soldaten zu schützen. Majestätisch war sie die
morastige Dorfstraße hinunterstolziert und am Ortsausgang in einen Feldweg
abgebogen, wo sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.
    Den ganzen Tag
hatte er versucht, ihren aufreizenden Anblick zu vergessen, aber es war ihm
nicht gelungen. Wann immer er konnte, hatte er sich davongestohlen. Er hatte
sich an Baumstämmen gerieben und sich vorgestellt, wie er sie unterwarf, wie er
ihr den Hochmut austrieb. Er hatte wieder und wieder seine Hand in die Hose
gesteckt, aber der Druck hatte nicht nachgelassen, er war nur noch stärker
geworden.
    Am Abend hatte er
es nicht mehr ausgehalten und hatte sich unerlaubt von der Kompanie
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