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Kohlenstaub (German Edition)

Kohlenstaub (German Edition)

Titel: Kohlenstaub (German Edition)
Autoren: Anne-Kathrin Koppetsch
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Leib
riss, um das Ungeziefer zu zerquetschen, würden ihn alle für wahnsinnig halten.
Das ist nur Einbildung, dachte er. Das existiert nur in meinem Kopf. Sobald ich
meine Medizin habe, beruhigt sich alles. Ungeduldig läutete er, bis sich vor
ihm die Tür öffnete.
    »Ist Dr. Saretzki
da?«, fragte er hastig.
    »Er ist im
Behandlungsraum«, erwiderte das Dienstmädchen und trat schnell zur Seite.
    Er stürmte über
die weichen Teppiche. Jeder Schritt schmerzte in den Kniegelenken, die schon
seit Jahren von der Knochenerweichung befallen waren. Wehe, er hat die Medizin
nicht besorgt!, dachte er. Wehe, er hält mich wieder hin! Durch die riesigen
Buntglasfenster fiel das Morgenlicht. Auf einer Vitrine stand ein Samowar, der
auf Hochglanz poliert war. Russische Ikonen und Bilder der Zarenfamilie zierten
die Wände, doch für all das hatte er keinen Blick. Ohne anzuklopfen, riss er
die Tür auf und betrat den Behandlungsraum.
    Dr. Fjodor
Saretzki saß in Hemd und Weste hinter seinem Schreibtisch. Er war von kleiner,
bulliger Statur. Fast hatte es den Anschein, als würde sein quadratischer
Schädel direkt auf den Schultern sitzen. Auf die eingedrückte Nase zwängte sich
ein Kneifer, und als er nun sprach, sprang sein Mund wie das Maul einer Muräne
vor. »Setzen Sie sich. Ich habe noch zu tun.«
    Hasserfüllt
blickte er den Arzt an, der so viel Macht über ihn besaß. Als einziger Mensch
hier in Berlin wusste Dr. Saretzki, dass er in Courcelles kastriert worden war.
Als einziger Mensch konnte er ihm seine Medizin beschaffen. Nur weil er ihn
brauchte, ließ er sich diese Behandlung gefallen.
    Endlos lang
kratzte die Feder des Füllfederhalters über das Papier. Irgendwo tickte eine
Standuhr. Plötzlich erhob sich Dr. Saretzki und ging zu einem Schrank, wo er
die Akte verstaute. Er kam mit einer neuen zurück, setzte sich wieder hin,
schlug den Deckel auf und vertiefte sich in die Aufzeichnungen. Dann blickte er
auf. Seine grauen blanken Augen erinnerten an Murmeln. »Haben Sie Beschwerden?«
    Er biss die Zähne
zusammen und zuckte nur mit den Achseln. Was für eine Frage! Beschwerden!
    »Wie sieht Ihr
Harn aus?«
    »Unverändert.«
    »Ist Blut
enthalten?«
    Er nickte.
    »Eiter?«
    Erneutes Nicken.
    »Fett und Eiweiß?«
    Wieder ein Nicken.
    »Gegen die
Nierenentzündung schreibe ich Ihnen Sodapulver auf. Lösen Sie dreimal täglich
einen Esslöffel in Wasser auf und trinken Sie die Mischung in kleinen Schlucken.
Es dauert eine Weile, bis die Wirkung einsetzt. Machen Sie sich jetzt frei.«
    »Sie wissen,
weshalb ich hier bin«, sagte er, ohne sich zu erheben.
    Dr. Saretzki griff
nach einem eisernen Winkelmesser. »Nun machen Sie schon.«
    Widerstrebend
stand er auf, trat hinter den Paravent und legte den Frack, die Weste, den
Binder und das Hemd ab. Große Überwindung kostete es ihn, den Kattun-Wickel
abzurollen. Er war etwa zwanzig Zentimeter breit und zwei Meter lang und
verbarg, fest um den Oberkörper geschnürt, seine Brüste, die inzwischen so fest
und groß wie bei einem erblühenden Mädchen waren. Sogar die Warzenhöfe waren
größer geworden. Mit hochrotem Kopf trat er hinter dem Paravent hervor und
flüsterte: »Ich weiß, dass sie gewachsen sind.«
    Dr. Saretzki
musterte seinen Oberkörper, die Stellung der Schultern und die Haltung des
Halses mit den kühlen Augen des Diagnostikers. »Drücken Sie den Rücken durch
und stehen Sie gerade«, sagte er und trat hinter ihn. Mit geübten Händen legte
er den Winkelmesser an die Wirbelsäule und bewegte den Schieber auf dem
rechtwinklig abstehenden Lineal nach links. »Die Skoliose hat sich
verschlimmert. Haben Sie Schmerzen?«
    »Noch bin ich
nicht tot«, murmelte er.
    »Ich schreibe
Ihnen ein Pulver auf Basis von erdigen Kalkbestandteilen auf. Mischen Sie einen
Teelöffel unter jede Mahlzeit. Machen Sie noch die Übungen zur Stärkung der
Rückenmuskulatur?«
    Er nickte ergeben
und trat hinter den Paravent. Längst wusste er, dass die Verkrümmung der
Wirbelsäule, die Brightsche Nierenentzündung und diverse Knochenbrüche der
vergangenen Jahre Folgen der Kastration waren. Eines Tages würden diese Leiden
seinen Organismus zum Erliegen bringen. Die Arzneien gewährten ihm nur einen
Aufschub, heilen würden sie ihn nicht.
    Wieder angekleidet
setzte er sich vor den Schreibtisch. Plötzlich erklang ein Singen in seinen
Ohren, gleichzeitig bewegte sich etwas unter dem linken Ärmel. Der Kitzel ließ
ihn erschauern und jagte ihm eine Gänsehaut über die
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