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Kohlenstaub (German Edition)

Kohlenstaub (German Edition)

Titel: Kohlenstaub (German Edition)
Autoren: Anne-Kathrin Koppetsch
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entfernt.
Über den Feldweg war er zu einem Gutshof gelangt und hatte sich auf die Lauer
gelegt. Als eine Gestalt nach draußen getreten war, hatte er sofort erkannt,
dass sie es war. Wie ein wildes Tier hatte er sie angefallen und genommen. Vor Raserei
war er blind und taub gewesen.
    Auf einmal hatte
ihn etwas hart am Kopf getroffen, und er hatte das Bewusstsein verloren. Erst
in diesem Verlies war er wieder aufgewacht.
    »Komm bloß nicht
näher, du Hure«, sagte er jetzt und wandte sich an Marcel. »Sag ihr, dass sie
verschwinden soll.«
    »Das kann ich mir
nicht ansehen«, murmelte der junge Franzose und verließ das Gewölbe.
    Jetzt war er mit
der Frau allein. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und entblößten die
abgebrochenen Schneidezähne. In ihrer Hand hielt sie eine seltsam geformte
Zange. Sie bestand aus zwei langen Eisenstangen, die sich in der Mitte kreuzten
und in zwei Scheiben mündeten. Und plötzlich begriff er, was sie vorhatte. Sie
wollte es ihm heimzahlen. Sie wollte ihm etwas antun, das so grausam war, dass
es kaum mit Worten auszudrücken war. Kalter Schweiß rann zwischen seinen
Schulterblättern hinab. In was für einen Alptraum war er da nur geraten?
    »Marcel!«, schrie
er. »Komm zurück! Das verstößt gegen jede … MARCEL!«

Zwanzig Jahre später



Im Club von Berlin
    Das Dienstmädchen
bat ihn, sich einen Moment zu gedulden, und verließ den kleinen Salon. Dr. Otto
Sanftleben verschränkte die Hände auf dem Rücken und biss sich auf die Unterlippe.
Seit über sechs Jahren hatte er keinen Vortrag mehr gehalten. Zwar hatte er
sich mit Akribie vorbereitet, aber alle Übungen konnten die Praxis nicht
ersetzen. Er wusste genau, wie viel vom Gelingen dieses Abends abhing, und er
hoffte sehr, dass er sich schnell zurechtfinden würde.
    Um sich etwas
abzulenken, nahm er die Einrichtung in Augenschein. Von der Decke hingen große
Kronleuchter, die ein helles, strahlendes Licht spendeten. Die Sofas waren mit
den beliebten Ripsstoffen bezogen. Auf dem Parkettfußboden lagen großgeblümte
Teppiche. Und an den Wänden hingen Ölgemälde in goldenen Barockrahmen.
    Endlich öffnete
sich die Tür. Auf langen O-Beinen näherte sich ein hagerer Mann. Er trug einen
schwarzen Frack, eine weiße Weste und ein weißes Hemd. »Halb acht war
ausgemacht«, sagte er streng. »Sie kommen zu spät.« Das aschblonde Haar war
akkurat gescheitelt und klebte, mit Makassaröl getränkt, am Schädel. Die Stirn
und die Schläfen glänzten und waren mit Aknenarben übersät.
    »Sie belieben zu
scherzen«, sagte Otto und brachte sogar ein Lächeln zustande. Er ergriff die
knochige Hand und schüttelte sie ausgiebig. »Verehrter Herr …« Schnell
überlegte er, mit welchem Titel er Karl Vitell anreden sollte, der nicht nur
einer der zwanzig vermögendsten Männer des Kaiserreichs, sondern auch
Kommerzienrat, Träger des Preußischen Königlichen Kronenordens und Vorsitzender
des Clubs von Berlin war. »… Herr Kommerzienrat, ich schätze mich glücklich,
Ihre Bekanntschaft zu machen.«
    Vitell zog seine
Hand aus der Umklammerung und sagte: »Ja, ja.« Er verharrte einen Moment, um
Otto von Kopf bis Fuß zu mustern. »Ich habe Sie mir älter, vergeistigter und
würdevoller vorgestellt, mehr wie einen Gelehrten.«
    Das war eigentlich
eine Respektlosigkeit, doch enthielten die Worte mehr als nur einen Funken
Wahrheit. Weil er erst fünfunddreißig Jahre alt war, erkannten nur wenige den
Wissenschaftler in Otto. Die meisten hielten ihn für einen Mann, der einer mehr
körperlichen Beschäftigung nachging – etwa als Veterinärmediziner, Förster oder
Kapitän zur See. Er schrieb es seinem gesunden Teint, den markanten
Gesichtszügen und seiner kräftigen Statur zu. »Ich trainiere an der frischen
Luft«, sagte er. »Das kann ich jedem nur empfehlen, gerade einem Mann in Ihrer
Pos –«
    »Jetzt kommen Sie
endlich«, unterbrach ihn Vitell und griff nach seinem Arm. »Durch Ihre
Verspätung haben wir schon mehr als genug Zeit verloren.«
    Widerstrebend ließ
Otto sich ein Stück mitziehen, dann befreite er seinen Ellenbogen mit einem
Ruck. So allmählich reichte ihm das Gebaren dieses Mannes. Er musste sich
schließlich nicht alles gefallen lassen. Um sich von seiner Pünktlichkeit zu
überzeugen, zog er seine Uhr aus der Westentasche und ließ den Deckel
aufspringen. Er guckte einmal auf das Ziffernblatt, dann ein zweites Mal. Plötzlich
wurde ihm klar, dass sich die Zeiger seit ungefähr einer Stunde nicht
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