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Kohlenstaub (German Edition)

Kohlenstaub (German Edition)

Titel: Kohlenstaub (German Edition)
Autoren: Anne-Kathrin Koppetsch
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bewegt
hatten. Möglicherweise war die Uhr noch früher stehen geblieben, und das
bedeutete, dass er sich tatsächlich verspätet hatte. Wie peinlich!
    Otto schluckte
hart und spürte ein Ziehen in der Magengegend. Das war ihm noch nie passiert!
Und ganz bestimmt nicht an einem so entscheidenden Tag. Verunsichert folgte er
dem Kommerzienrat in den Saal. Von der rückwärtigen Fensterfront bis zu einem
kleinen Podest ganz vorn erstreckten sich fünfzehn voll besetzte Stuhlreihen.
Es wurde lebhaft diskutiert, schwadroniert und gelacht. Niemand schien wegen
der Verspätung verärgert zu sein. Die gelöste Atmosphäre beruhigte Otto etwas,
sodass er sich selbst Mut machte: Eine geringfügige Verspätung war jedenfalls
kein Grund, um grob zu werden. Er warf dem Kommerzienrat einen tadelnden Blick
zu und reckte sein Kinn stolz in die Höhe. Soweit er aus dieser Perspektive
erkennen konnte, war kein einziger Sitzplatz frei geblieben. Die gesamte Prominenz
des »Millionenclubs«, wie der Club von Berlin im Volksmund genannt wurde, war
gekommen, um seinen Vortrag zu hören. Sein Buch war in aller Munde, er war ein
gefragter Mann. Was schadete da eine kleine Verzögerung?
    Vitell hob die
Arme und rief: »Meine Herren, der Dozent ist eingetroffen. Meine Herren, bitte!
Wir wollen endlich anfangen.« Nach und nach wurde es etwas leiser, bis nur noch
vereinzeltes Husten und Stühlerücken zu hören waren. Vitell betupfte seine
Stirn mit einem Taschentuch und sagte: »Als auf der Mitgliederversammlung
angeregt wurde, dass in unserer Vortragsreihe ein kriminalpsychologisches Thema
behandelt werden sollte, telegrafierte ich der Koryphäe auf diesem Gebiet, dem
Autor der ›Psychopathia Sexualis‹, Prof. Krafft-Ebing, nach Wien. Ich bat ihn,
mir einen Wissenschaftler zu nennen, der aufgrund seiner Praxisnähe geeignet
wäre, vor einem Laienpublikum zu sprechen. Noch am gleichen Tag erhielt ich
Antwort. Der Professor berichtete mir, dass ihm ein Buch mit dem Titel
›Phänomenologisches. Ein Beitrag zur Kriminalpsychologie‹ in die Hände gefallen
sei, das ihn sehr beeindruckt habe. So ließ ich Erkundigungen einholen und
erfuhr, dass das umfangreiche Werk innerhalb eines halben Jahres viermal
aufgelegt wurde und die Nachfrage unvermindert anhält. Wer das Buch noch nicht
gelesen hat, der soll heute Gelegenheit bekommen, Einblicke in die Forschungen
des Autors zu gewinnen. Wer das Buch bereits kennt, dem soll später die
Möglichkeit gegeben werden, durch Fragen sein Wissen zu vertiefen. Meine Herren,
bitte begrüßen Sie Herrn Dr. Sanftleben!«
    Otto bestieg das
Podium und blickte auf das begeistert applaudierende Publikum. Um seine
Nervosität in den Griff zu bekommen, rief er sich ins Gedächtnis, dass nicht
er, sondern seine fachliche Kompetenz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.
Als Experte sollte er zu einem wissenschaftlich interessierten Publikum
sprechen. Er entnahm seiner Dokumententasche mehrere Bögen Papier und ordnete
sie auf dem Pult. Dann hob er die Hände und dankte für die überaus herzliche
Begrüßung. Nachdem Ruhe eingekehrt war, atmete er tief durch und begann den
Vortrag mit einer Begriffserklärung:
    »Unter der
Verbrecherphänomenologie verstehen wir die Untersuchung kriminalistisch
relevanter Erscheinungen, die uns Aufschluss über seelische Vorgänge des Täters
geben und so die Hintergründe der Tat aufdecken können.
Untersuchungsgegenstände sind unter anderem Körperhaltung, Mimik, Gestik und
Kleidung …«
    Während Otto
fortfuhr, fiel ihm ein älterer Herr in der ersten Reihe auf. Er trug einen
altmodischen Gehrock, dessen grober schwarzer Stoff an die Soutane eines
Dorfpriesters erinnerte. Sein ausrasierter Backenbart war buschig und von
grauen Strähnen durchsetzt. Sein Blick war seltsam starr: leblos und zugleich
von einem inneren Feuer erfüllt. Als das Publikum über einen Zwischenruf
lachte, presste er seine Lippen aufeinander, seine Hände ballten sich zu
Fäusten, und sein Blick schoss wahre Feuerbälle ab.
    Otto konnte sich
nicht erinnern, diesem Mann schon einmal begegnet zu sein. So beschloss er, den
Blickkontakt zu meiden, um sich ganz auf seine Ausführungen konzentrieren zu
können. Buchstaben wurden zu Worten, Worte zu Sätzen und Sätze zu einem
Vortrag. Zu seiner eigenen Verwunderung gewann er schnell an Sicherheit, so als
hätte er seine Vortragstätigkeit nie länger unterbrochen. Die Zeit verstrich
wie im Flug, und ehe es sich Otto versah, machte Kommerzienrat Vitell durch
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