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Kohlenstaub (German Edition)

Kohlenstaub (German Edition)

Titel: Kohlenstaub (German Edition)
Autoren: Anne-Kathrin Koppetsch
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ein
Handzeichen auf sich aufmerksam und schwenkte seine Taschenuhr über dem Kopf.
    Otto nickte ihm zu
und sagte zum Publikum gewandt: »So leid es mir tut – gerade bekomme ich ein
Zeichen, dass eine Stunde schon vorüber ist. Bevor ich zum Ende komme, möchte
ich noch ein paar grundsätzliche Worte sagen. Die Verbrecherphänomenologie soll
keine verbindliche Merkmalslehre aufstellen, die den Anspruch auf Unfehlbarkeit
erhebt. Vielmehr soll sie als Hilfswissenschaft dienen, welche Denkanstöße
geben und Verdachtsmomente modifizieren kann. Nur so gibt sie den ermittelnden
Behörden ein Instrument an die Hand, das zur Überführung von Kriminellen
beitragen kann.« Otto nahm die Papierbögen auf und klopfte sie auf dem Pult
gerade. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
    Das Publikum erhob
sich von den Plätzen und klatschte begeistert Beifall. Einige Herren riefen
sogar: »Bravo« oder »Bravissimo«.
    Otto machte eine
beschwichtigende Geste. »Danke, danke! Das ist zu viel der Ehre«, sagte er
bescheiden, bekam aber vor lauter Stolz rote Flecken im Gesicht. Was kann mir
jetzt noch passieren?, dachte er.
     
    Nach dem Vortrag
erschien das Dienstpersonal, um den Saal für das Festessen vorzubereiten.
Während Stühle zur Seite gestellt und Tische hereingetragen wurden, verteilten
sich die Zuhörer auf das Billardzimmer, die Bibliothek, das Spielzimmer und die
beiden Salons.
    Otto fand sich im
Lesezimmer wieder, wo er sich sogleich von zahlreichen Clubmitgliedern umringt
sah. Im Überschwang der Gefühle griff er nach einem Glas Clicquot und stürzte
den Champagner in einem Zug hinunter. Das hat gutgetan, dachte er sich, stellte
das leere Glas auf ein Tablett und nahm sogleich das nächste. Während er dieses
Mal genussvoll trank, beantwortete er die Fragen, die nun von allen Seiten auf
ihn einprasselten.
    Aus dem
Augenwinkel sah er, wie Kommerzienrat Vitell in die Tür trat, sich suchend nach
ihm umschaute und sich auf seinen langen Säbelbeinen näherte. »Das haben Sie
famos hingekriegt«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie den schroffen Empfang
von vorhin. Wir haben heute wichtige Gäste, und ich wollte sie nur ungern noch
länger warten lassen.«
    »Herr Kommerzienrat«,
erwiderte Otto. »Ich bitte Sie. Sie hatten ja vollkommen recht. Ich war
wirklich zu spät. Meine Uhr ist offensichtlich stehen geblieben. Das tut mir
außerordentlich leid.«
    »Entschuldigung
angenommen«, sagte Vitell sofort. »Und jetzt: Schwamm drüber. Dann können wir
uns anderen Dingen zuwenden. Ich möchte Ihnen nämlich jemanden vorstellen.«
    Otto blickte auf
einen hoch aufgeschossenen älteren Mann, der dem Kommerzienrat gefolgt war.
Seine stark gewölbten Augenbrauenbögen beschatteten metallisch glänzende und
seltsam starr blickende Augen. Die Stirnfalten waren tief wie Ackerfurchen, und
die aufeinandergepressten Lippen bildeten zwei messerscharfe Linien. Es war der
Mann, der Otto während des Vortrags so feindselig angestarrt hatte.
    »Das ist
Kriminaldirigent von Grabow«, sagte Vitell. »Er ist der Leiter der Abteilung IV des Polizeipräsidiums von Berlin.«
    Der
Kriminaldirigent?, dachte Otto überrascht. Er konnte sich nicht erklären, wieso
der Leiter der Kriminalpolizei etwas gegen ihn haben sollte. Möglicherweise
hatte er die Blicke falsch gedeutet, oder es lag eine Verwechslung vor. Mit
Sicherheit würde sich alles schnell aufklären. »Ich hoffe«, sagte Otto, »dass
mein Vortrag Ihr Interesse wecken –«
    »Mich können Sie
nicht täuschen«, unterbrach ihn von Grabow. Seine außergewöhnlich hohe und
schrille Stimme passte nicht zu seiner gravitätischen Erscheinung. »Ich weiß
sehr wohl, wer Sie sind, und vor allem weiß ich, was Sie sind.«
    Kommerzienrat
Vitell fuhr sich irritiert über die Haare, so als könnte er mit einer
geordneten Frisur die Situation besser kontrollieren. »Die Abteilung des
Kriminaldirigenten bearbeitet den Kreuzigungsfall«, sagte er, offenbar in der
Hoffnung, von Grabows seltsamen Einwurf überspielen zu können. »Wie Sie
vielleicht mitbekommen haben, Herr Doktor, nimmt die Bevölkerung großen Anteil
an dem Schicksal der gekreuzigten Handschuhnäherin. Um Unruhe und Angst bei den
Menschen zu vermeiden, ist es nötig, schnelle Ergebnisse zu präsentieren. Dabei
soll Ihre Methode zur Aufklärung beitragen.«
    Otto schaffte es
endlich, seinen Blick von Kriminaldirigent von Grabow zu lösen, und räusperte
sich. »Ihr Angebot schmeichelt mir natürlich, Herr Kommerzienrat, aber
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