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Königin für neun Tage

Königin für neun Tage

Titel: Königin für neun Tage
Autoren: Rebecca Michéle
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übernahmen. Meistens kehrten die Jungen erst als Erwachsene in ihr Elternhaus zurück, um die Herrschaft zu übernehmen. Darum konnte Anthony die Aufregung von Ellen und seiner Mutter nicht verstehen. Er war schließlich der Erbe der Burg, eines Tages würde ihm alles gehören. Für diese Aufgabe musste er ja schließlich irgendwann ausgebildet werden. Gut, Fenton Castle lag viele Tagesritte von London entfernt, aber er würde doch nicht für immer fortgehen.
Zu seiner größten Verwunderung legte Lady Margaret nun beide Hände auf seine Schultern und zog ihn dicht an sich heran. Nie zuvor hatte ihn seine Mutter in den Arm genommen, vielmehr hatte sie ihm gegenüber stets eine kühle Reserviertheit gezeigt.
»Es ist Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen, Mylady.« Ellens Stimme klang so tief und hohl, als würde sie aus einem Grab heraus sprechen. »Soll ich …?«
»Nein, das ist meine Aufgabe«, unterbrach Lady Margaret. Sie straffte die Schultern, ein entschlossener Ausdruck trat in ihre Augen, als sie fortfuhr: »Würdest du mich bitte auf einen Spaziergang begleiten?«
Langsam folgte Anthony der Mutter zur Tür hinaus. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Ein fremder Ritter, ein Abgesandter seines Vaters, traf unvermittelt im Schloss ein und versetzte seine Mutter in eine Unruhe, die Anthony nie zuvor an ihr gesehen hatte. Selbst die sonst so besonnene Ellen schien völlig den Kopf verloren zu haben. Jetzt wollte Lady Margaret einen Spaziergang machen, ganz so, als handle es sich um einen unbeschwerten Zeitvertreib an einem Sonntagnachmittag.
Anthony folgte der Mutter über die Zugbrücke in den weitläufigen Schlosspark. Lady Margaret hielt den Kopf gesenkt und schritt schweigend neben ihm. Sie passierten den Rosengarten, umrundeten den Teich und traten schließlich durch eine eiserne Pforte in den ummauerten Friedhof, auf dem sich die Familiengräber befanden. Es war lange her, seit Anthony das letzte Mal hier gewesen war. Lady Margaret verharrte vor der Reihe mit den kleinen Grabsteinen. Sie hielt die Hände gefaltet und murmelte ein Gebet. Anthony betrachtete die Inschriften der grauen Steine:
Thomas, Henry, Robert, Elizabeth

Es waren die Gräber seiner Geschwister: drei Jungen und ein Mädchen. Anthony wusste, dass sie alle nicht länger als ein paar Tage gelebt hatten. Lady Margaret ging oft allein in den abgelegenen Teil des Gartens, um an den Gräbern ihrer toten Kinder zu beten. Nun streckte sie die Arme nach Anthony aus. Die Geste hatte etwas so Hilfloses, dass Anthony gerührt ihre Hand ergriff und sie fest drückte.
»Über lange Zeit hinweg war es mir nicht vergönnt, ein lebensfähiges Kind zu gebären. Jahr für Jahr hofften Thomas und ich auf einen Erben, doch keiner der Söhne wurde älter als ein paar Stunden.« Sie sah auf und blickte Anthony traurig an. An ihren Wimpern hingen Tränen. »Jeder Mann strebt nach einem Sohn, einem Erben, dem er eines Tages Namen und Besitz übergeben kann. Auch dein Vater macht da keine Ausnahme. Du weißt, warum König Henry sich von seiner ersten Gattin, Königin Catherine, getrennt hat?«
Anthony nickte beklommen. Aus Büchern und von seinem Lehrer hatte er alles erfahren, was zur Abspaltung Englands von der Kirche in Rom geführt hatte.
»Der König war der Meinung, Gott versage ihm den Sohn, weil seine Ehe mit der Witwe seines Bruders gegen die Bibel verstößt«, gab er sein Wissen preis. »Königin Catherine gebar ihm nur eine Tochter und war dann zu alt, um noch auf ein weiteres Kind zu hoffen. Darum ließ er sich scheiden und heiratete Anne Boleyn, die ihm allerdings auch nur eine Tochter schenkte.«
Lady Margaret nickte. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten, und über ihrer Nase entstand eine Sorgenfalte. Auch Anthony zog grübelnd die Stirn kraus. Warum erzählte ihm die Mutter das alles? Das seltsame Liebesleben des Königs war allgemein bekannt, aber niemand wagte, es zu kritisieren. Die Gefahr, den eigenen Kopf zu verlieren, war zu groß.
Lady Margaret fuhr mit monotoner Stimme fort: »Nach der ersten Enttäuschung fand sich der König mit seiner Tochter Elizabeth ab. Er ließ sogar das größte Tauffest, das England je gesehen hat, feiern. Bald jedoch wurde er seiner zweiten Frau überdrüssig. Als Anne Boleyn schließlich eine Fehlgeburt erlitt – das Kind wäre ein Junge gewesen –, wandte er sich der nächsten Frau zu. Ich bin überzeugt, hätte Anne ihm einen Sohn geboren, dann hätte ihr Leben nicht auf dem Schafott
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