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Königin für neun Tage

Königin für neun Tage

Titel: Königin für neun Tage
Autoren: Rebecca Michéle
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er hatte seit dem kleinen Stück Kuchen am Morgen nichts mehr gegessen. Rasch griff er nach einem kalten Gänseschlegel, brach von dem weißen Brot ab und spülte die Speisen mit einem Becher verdünntem Schwarzbier hinunter. Dann blickte er sich unschlüssig um. Wo waren denn alle geblieben? Der elegante Fremde und sein Gefolge waren sicher zum Gästetrakt geleitet worden. Anthony konnte sich nicht erinnern, dass dieser Flügel der geräumigen Burg jemals benutzt worden war. Obwohl er nur wenige Augenblicke in der Gesellschaft des Ritters verbracht hatte, fühlte er sich unerklärlicherweise zu dem Mann hingezogen. Sein Herz klopfte ein paar Takte schneller, als er an die braunen Augen dachte, und er schrieb es der Aufregung zu, dass er als Knappe in Sir Normans Dienste treten sollte.
Anthony suchte Ellen, aber ihre Gemächer im Ostflügel waren ebenfalls verwaist. Kurz zögerte er, dann stieg er in den zweiten Stock zu den Zimmern seiner Mutter hinauf. Nie zuvor hatte er die Räume von Lady Margaret ungebeten betreten. Er klopfte einmal, zweimal, erhielt aber keine Antwort, obwohl er Stimmen hinter der Tür hörte. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und spähte hinein.
Lady Margaret lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. Unter ihrer Haube hatten sich Haarsträhnen gelöst, die ihr wirr in das vom Weinen gerötete und fleckige Gesicht fielen. Anthony bemerkte die geöffnete Reisetruhe mitten im Zimmer, in die Lady Margaret wahllos Kleidungsstücke warf. Ellen saß mit gefalteten Händen auf einem Schemel und schüttelte wie in Trance den Kopf. Dabei bewegte sie tonlos ihre Lippen, ganz so, als würde sie ein Gebet nach dem anderen sprechen.
»Wollt ihr verreisen?«, machte sich Anthony bemerkbar.
Die beiden Frauen fuhren erschrocken herum.
»Was tust du hier?« Ellen fasste sich als Erste. »Habe ich dich nicht geheißen, in deinem Zimmer zu bleiben?«
Trotzig schob Anthony die Unterlippe nach vorne und stemmte beide Hände in die Hüften. Dass er in diesem Moment seinem Vater sehr ähnlich sah, wusste er nicht. Diese kleine Geste löste bei Lady Margaret einen erneuten Weinkrampf aus.
»Wir müssen fliehen. Noch heute. Sofort!« Abgehackt kamen die Worte über ihre zitternden Lippen. Fahrig fuhr sie fort, irgendwelche Dinge in die Truhe zu stopfen.
Ungläubig starrte Anthony auf die Szene. Ächzend, als wäre sie eine hundertjährige Frau, erhob sich Ellen und kam mit schleppenden Schritten auf Anthony zu.
»Mein Kind, ach, mein liebes, kleines Kind …«, murmelte sie, was ihm in Anbetracht der Tatsache, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen sehen zu können, trotz der verwirrenden Situation ein Lächeln entlockte.
»Ellen … Mylady …« Anthony hatte seine Mutter nie anders als mit Mylady angesprochen, seine Vertraute war all die Jahre die Kinderfrau gewesen. »Ich kann verstehen, dass die Vorstellung, mich zu verlieren, euch ängstigt. Aber mein Vater ruft mich an seine Seite. Ich dachte immer, er interessiert sich nicht für mich, doch jetzt werde ich bald ein Mann und ein mutiger Ritter sein und an der Seite von Vater in den Kampf ziehen. Ich verlasse Fenton Castle ja nicht für immer. Sobald es geht, werde ich euch besuchen kommen, das verspreche ich.«
Er hatte mit so viel Elan und Vorfreude gesprochen, dass Lady Margaret erneut laut aufschluchzte.
»Das Kind hat keine Ahnung«, jammerte sie. »Er wird sie töten, genauso wie er mich, uns alle, vernichten wird!«
»Natürlich hat sie keine Ahnung«, fuhr Ellen Lady Margaret so barsch an, wie Anthony die Kinderfrau nie zuvor mit seiner Mutter hatte sprechen hören. »Wir haben schließlich alles getan, um das Geheimnis zu wahren. Es musste so kommen, Mylady. Wir haben von Anfang an gewusst, dass unser Spiel eines Tages durchschaut werden wird.«
Verwirrt griff sich Anthony an den Kopf. Er konnte sich auf die seltsamen Worte von Ellen und das hysterische Verhalten seiner Mutter keinen Reim machen. Er wusste instinktiv, dass nicht allein die Tatsache, dass er Fenton Castle für einige Zeit verlassen würde, die beiden Frauen in eine derartige Panik versetzte. Waren sie etwa verrückt geworden? Aus seinen Studien wusste er, dass es noch im vorigen Jahrhundert in England üblich gewesen war, seine Söhne in anderen Häusern erziehen zu lassen. Noch heute gab es viele Familien, die ihren erstgeborenen Sohn, wenn der Junge alt genug war, um ein Holzschwert zu halten, in die Obhut von Fremden gaben, die seine Erziehung
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