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Königin für neun Tage

Königin für neun Tage

Titel: Königin für neun Tage
Autoren: Rebecca Michéle
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geendet.«
»So aber wurde sie des Ehebruchs und der Verschwörung gegen den König angeklagt und hingerichtet. Binnen einer Woche vermählte sich König Henry mit Jane Seymour, der Mutter von Prinz Edward. Ihr folgten die Prinzessin von Kleve und die flatterhafte Catherine Howard. Und jetzt hat er bereits die sechste Frau an seiner Seite. Glaubt Ihr, es wird die letzte sein?«
»Scht!« Rasch legte Lady Margaret Anthony eine Hand auf den Mund. »Du musst auf deine Worte achten, wenn Fremde in der Nähe sind.«
»Aber hier hört uns doch niemand, Mylady«, wandte Anthony ein. Es war ihm schleierhaft, was die bewegte Geschichte des Königs mit dem Erscheinen von Sir Norman zu tun haben sollte und warum seine Mutter darüber derartig verstört war.
»Dein Vater teilt die Einstellung des Königs. Er stammt aus einer Familie, aus der nur Söhne hervorgegangen sind. Leider ist er der letzte männliche Nachkomme. Bevor wir vermählt wurden, hatte ich ihn nur einmal gesehen. Meine Eltern gaben mir eine gute Mitgift mit, er brauchte eine Frau, die sich um das Haus kümmert und ihm Kinder schenkt. Männliche Kinder, versteht sich. Doch du siehst, wie mein Schicksal war …« Sie deutete auf die Grabsteine, und Anthony schluckte trocken. »Nachdem ich vier tote Kinder zur Welt gebracht und einige Fehlgeburten erlitten hatte, sah dein Vater seine Felle davon schwimmen. Er drohte, mich zu verstoßen. Meine Eltern waren längst gestorben, Geschwister oder sonstige Verwandte habe ich nicht. Wohin hätte ich gehen sollen? An wen hätte ich mich wenden können? Ich hatte schreckliche Angst, besonders als ich merkte, dass ich wieder ein Kind erwartete.«
»Mich«, warf Anthony ein.
Lady Margaret nickte, ohne ihren Blick von den kleinen Gräbern zu wenden. »Thomas ließ vom ersten Augenblick keinen Zweifel daran, dass es meine letzte Chance war. Da eine Scheidung für seinen Ruf am Hof wenig förderlich gewesen wäre, lebte ich fortan in der Angst, er würde mir etwas antun, wenn ich auch dieses Kind wieder verlieren würde oder wenn es ein Mädchen sein sollte. Fenton Castle liegt so abgeschieden – kein Mensch hätte mich vermisst, wenn mir etwas zugestoßen wäre. Daher waren die Monate bis zur Geburt die wohl schrecklichsten in meinem ganzen Leben.«
Plötzlich erhob sie sich und ging zum Rand des Friedhofes. Dort rankten Gestrüpp und Dornenhecken mannshoch bis über die Mauer. Ohne darauf zu achten, dass die Dornen ihre Finger zerstachen, bog Lady Margaret ein paar Zweige zur Seite und drängte sich durch die Hecke.
Anthony folgte ihr verwundert. »Mylady, sollten wir nicht besser ins Haus zurückkehren?«, rief er seiner Mutter nach, die sich jedoch unbeirrt an der Mauer entlangtastete.
Zu Anthonys Verwunderung lichteten sich die Hecken, und er stand auf einem schmalen Rasenstück, in dessen Mitte sich ein weiterer Grabstein befand. Anthony war nie zuvor an diesem Ort gewesen. Das Fundament war bereits moosüberzogen, trotzdem gelang es ihm mühelos, die Inschrift zu entziffern: Anthony Francis Thomas – 5. August 1532
Ein Schauer rann über Anthonys Rücken, und er presste fröstelnd die Arme vor die Brust, obwohl die Sonne warm vom Himmel schien. Was hatte dies zu bedeuten?
»Mein Grab … mit dem Datum meiner Geburt …«, stammelte er und sah seine Mutter entsetzt an.
Lady Margarets Lippen verzogen sich bitter. »Nicht dein Grab, sondern das deines Bruders.« Sie beugte sich nieder und strich zärtlich über den schlichten Stein. »Ich bin seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Ich wollte die Existenz dieses Jungen vergessen und habe mir eingeredet, du wärst mein einziges Kind. Aber niemand kann seiner Vergangenheit auf Dauer entrinnen.«
Eine kalte Hand umklammerte Anthonys Herz und drohte es zu zerdrücken.
»Wer bin dann ich, Mutter? Ein Wechselbalg?«
Anthony wählte mit Absicht diesen Begriff, denn er fürchtete plötzlich, nicht das leibliche Kind seiner Eltern zu sein. Der Junge, der heute vor vierzehn Jahren geboren worden war, lag versteckt hinter einer dichten Dornenhecke in der kalten Erde. Als er noch kleiner war, hatte Ellen ihm oft Geschichten von so genannten Wechselbälgern erzählt. Bisher hatte er den Sagen, dass Neugeborene armen Menschen geraubt und in herrschaftlichen Häusern untergeschoben wurden, keinen Glauben geschenkt. Ebenso wenig, dass es Eltern gab, die ihre Kinder skrupellos für ein paar Pennys verkauften. Nun aber schien sein eigenes Schicksal eng mit Ellens Geschichten verknüpft zu sein.
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