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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen
Autoren: Dieter Moitzi
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von seinem dichten, weißhaarigen Schopf zurück. Er lächelt breit, zeigt seine Zähne, seine Augen sind schmale Schlitze. Man sieht seine berühmten Grübchen. Das Foto atmet Gelassenheit, Liebe, Freude, menschliche Wärme aus. Wie friedlich er aussieht, wie glücklich er aussieht auf diesem Felsen, während er über seine geliebten, österreichischen Berge blickt!
    Ich kann direkt hören, wie er die verschiedenen Blumen aufzählt, die man im trockenen Gras erkennt. Ich stelle ihn mir vor, wie er auf die verschiedenen Berggipfel zeigt und mir ihre Namen erklärt. Sogar die Namen der Gipfel, die ich gar nicht sehen kann. »Also, dort«, könnte er sagen, »dort hinter dem Dingskogel, links … also, sehen kannst du ihn jetzt nicht, aber genau hinter dem Dingskogel versteckt sich der Kleine Dingsbums, und dahinter versteckt sich dann wieder der Große Dingsbums.« Meine Schwester und ich lachten immer darüber. Und er war froh, dass er uns wieder einmal zum Lachen gebracht hatte …
    Mein Vater war ein starker, ruhiger und positiver Mann gewesen. In meinem ganzen Leben habe ich ihn nie irgendetwas Böses oder Abwertendes über jemand anderen sagen hören. Er hatte immer und für jeden eine Erklärung, eine Entschuldigung. Er gab zu, dass er manchmal eine Handlung, eine Haltung nicht verstand. Aber er zog nie voreilige Schlüsse. Er hat mich gelehrt, das Für und Wider abzuwägen. Er hat mich gelehrt, alles von verschiedenen Blickwinkeln aus zu betrachten, bevor ich einen Entschluss treffe.
    Was ihn vor allem charakterisierte: seine Freude. Er war glücklich zu leben, war glücklich, auf dieser Erde zu wandeln. Er war glücklich, dass er wandern oder Schi fahren oder klettern gehen konnte. Er war glücklich, seine Familie zu haben. Er war glücklich, in unserer Gesellschaft zu sein. Ja, er war sogar froh, jeden Morgen aufzustehen! Ich bin kein Morgenmensch, ich brauche immer etwas länger, bis ich mich so halbwegs menschlich fühle und bereit bin, auf meine Mitmenschen zuzugehen. Aber wenn er aus dem Bett sprang, schien er sich immer zu sagen: »Toll! Ein neuer Tag!« Er pfiff und sang dann immer am Morgen und konnte mich damit zur Raserei bringen, weil ich mich in jenen frühen Stunden nach Ruhe und Stille sehnte.
    Heute würde ich alles geben, um ihn wieder pfeifen und singen zu hören …

Das Begräbnis
     
    Zum Begräbnis meines Vaters kleidete ich mich ganz in Schwarz und schluckte eine Tablette. Ein Beruhigungsmittel. Die Kirchenglocken begannen um halb zehn zu läuten, erinnerten mich, erinnerten das Dorf, erinnerten die ganze Erde daran, dass die letzte Reise meines Vaters in wenigen Minuten beginnen würde. Ich wusste, dass er sich keine religiöse Zeremonie gewünscht hätte. Er war nie religiös gewesen, nur ein Bewunderer der Naturschönheiten. Die katholische Kirche hatte er nie besonders geschätzt.
    Aber irgendwie hatte meine Mutter keine Wahl gehabt.
    Die drei toten Männer, darunter mein Vater, hatten zur lokalen »Prominenz« gehört. Sie hatten Wandertouren, Skitouren, Klettertouren organisiert. Mein Vater war sehr beliebt gewesen. Unmöglich, an seiner Seite durchs Dorf zu gehen, ohne dass unzählige Leute ihn grüßten oder anquatschten. Eine Tageszeitung brachte sogar einen Artikel über den tragischen Unfall. Deshalb hatten die Witwen beschlossen, alle drei in einer gemeinsamen Totenmesse zu verabschieden. Als ich sie fragte, warum, hatte meine Mutter trocken gemeint: »Na klar, das hätte er nicht gewollt. Aber um das zu verhindern, hätte er bloß nicht unter diese verdammte Lawinen kommen brauchen!«
    Sie schwankte fortwährend zwischen Schmerz, Wut und ruhigem Akzeptieren. Ich fand sie sehr gefasst, sehr würdevoll. Sie hatte gehört, wie ihre Schwägerinnen und Schwager ihre »Gebrechlichkeit« besprachen. Eine Tante hatte gesagt: »Wir müssen auf sie aufpassen. Sie hat immer für ihren Mann gelebt. Jetzt, wo er weg ist … Sie ist ja so schwach …« Meine Mutter war aufgestanden und hatte ihnen gesagt: »Hört jetzt endlich auf, mich wie ein Kind zu behandeln! Ich kann und werde viel stärker sein, als ihr glaubt!«
    Die Kirche lag ganz in der Nähe der Wohnung meiner Eltern. Ich legte den Weg wie in einem bösen Traum zurück, stumm und vom Beruhigungsmittel betäubt. Es fühlte sich wie ein Spießrutenlauf ein. Menschen in schwarz strömten von überall her. Sie alle erkannten meine Mutter, wollten ihr Beileid ausdrücken, ihre Hand schütteln, sie umarmen. Meine Schwester, meine
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