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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen
Autoren: Dieter Moitzi
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einer Art masochistischer Akribie vorbereitet. Das Telefonklingeln. Die lange, schwere Stille, die auf die schreckliche Ankündigung folgt. Das Knistern in der Leitung. Die Worte, die in meinem Kopf herumwirbeln, aber fast bedeutungslos bleiben. Die schiere Unmöglichkeit, sie in Sätze, Bekundungen der Trauer, des Trostes umzubasteln. Das Gefühl völliger Leere.
    Manchmal hatte ich sogar davon geträumt, war auf einem tränennassen Kissen aufgewacht. Ich hatte immer gewusst, dass der tragische Augenblick kommen würde, früher oder später.
    Seltsam hingegen: ich hatte immer gedacht, es würde meine Mutter betreffen.
    Seltsam auch, dass ein Tag, der so furchtbar schwer wiegen sollte, so unscheinbar, fast friedlich beginnen konnte. Es gab keine Warnung, als ich aufstand. Ich bereitete Kaffee zu, öffnete die Tür, ließ die Hunde in den Garten hinaus. Von der Küche aus sah ich sie fröhlich herumlaufen, in die Wiese pissen, die Ecken beschnüffeln. Ich zitterte. Der frostige Morgen hatte den Garten mit einem silbrig-weißen Film aus hauchdünnem Eis verziert. Eine kleine, kraftlose Sonne begann, hinter der Steinmauer im hinteren Teil des Gartens aufzusteigen.
    Ich sah einen kleinen, flauschigen Spatz von einem dürren Bein auf das andere hüpfen. Er drehte seinen kleinen Kopf und schien mich eine Sekunde lang direkt anzublicken. Überraschende Intelligenz spiegelte sich in seinen Augen wider. Er erinnerte mich an einen seiner Artgenossen, den ich im vergangenen Sommer aufgelesen hatte. Er war vor den Mülltonnen gelegen, hatte kläglich gepiepst – seine beiden Flügeln waren gebrochen. Eine Katze hatte wohl mit ihm gespielt. Ich hatte Grégoire gefragt, was ich tun sollte. Er hatte mir halbpanisch mitgeteilt, ich solle den Mund halten und allein damit fertig werden. Ich hatte den Spatz also töten müssen; ich hatte ihn vorsichtig in einen Plastiksack gebettet, bevor ich ihm das Genick umdrehte. Er hatte weitergeflattert, und ich hatte weitergedreht und gedreht und gedreht. Schließlich hatte ich, den Tränen nahe, den Plastiksack mit dem immer noch zuckenden Vogel in die Mülltonne geworfen.
    Ich zitterte wieder.
    Als die Hunde zurückkamen, um meine Füße tollten und mich um ihre morgendlichen Hundekekse anbettelten, hörte ich, wie Grégoire seine erste Zigarette anzündete. Ich goss Kaffee in zwei Tassen, rührte den Zucker um, ging mit einer Tasse in jeder Hand und einem Hund hinter jedem Fuß ins Schlafzimmer zurück.
    »Morgen«, sagte ich und reichte Grégoire seine Tasse. Das Zimmer roch wie immer: nach kalten Zigaretten, Räucherstäbchen und Kerzenwachs mit einem Hauch Schimmel. Ich küsste Grégoire auf die Lippen und sagte: »Wir sind spät dran. Du solltest besser loslegen.«
    Grégoire verließ das Schlafzimmer, ohne ein Wort zu sagen. Ich hörte ihn in der Küche herumhantieren, wahrscheinlich goss er sich den ersten Gin mit Orangensaft ein. Ich zündete mir eine Zigarette an, warf ein paar Kekse in die Hundeschüssel und setzte mich aufs Bett. Als ich das Buch aufhob, das ich gerade las, klingelte das Telefon.
    Wir schrieben das Jahr 2003. Es war halb acht Uhr morgens. Ich war 31 Jahre alt. Ich hatte diesen Augenblick jahrelang befürchtet, und dennoch traf es mich total unvorbereitet.
    Meine Mutter war am Telefon, sie schluchzte so heftig, dass ich kein Wort verstand. Aber ich begriff sofort, worum’s ging.
    Endlich nahm meine Schwester den Hörer. Im Gegensatz zu meiner Mutter, die ich im Hintergrund weiter weinen hörte, war meine Schwester ruhig und gelassen. Sie erklärte nüchtern, was geschehen war. Alles, was ich tun konnte, war auf dem Bett sitzen bleiben. Auf das Titelbild des Buches in meiner Hand starren. Ihrer vertrauten Stimme zuhören.
    »Ich nehm’ das erste Flugzeug nach Wien«, würgte ich endlich hervor. Ich war überrascht, dass meine eigene Stimme dennoch ebenso ruhig und gelassen klang wie ihre. Ich war überrascht, dass es in der Leitung überhaupt nicht knisterte. Dass keine Worte in meinem Kopf herumwirbelten. Nichts als ein überwältigendes Gefühl der Leere, Einsamkeit, Müdigkeit.
    Ich fühlte mich wie ein Baum, der soeben von seinem Stamm gehackt worden war.
    Wir legten auf. Als ich meinen Blick hob, sah ich Grégoire in der Tür; er machte sein besorgtes Gesicht. »Wer war das? Was ist los«, fragte er.
    »Das war meine Schwester. Ich muss sofort los«, antwortete ich. »Gestern sind mein Vater und drei seiner Freunde unter eine Lawine gekommen. Mein Vater ist
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