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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen
Autoren: Dieter Moitzi
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hätte. Betäubt, unfähig zu trauern, zu weinen, zu denken. Der Tag schien grau und trist und luftleer. Aber es könnte genauso gut ein heller, sonniger Morgen gewesen sein. Ich hätte es nicht bemerkt. Mein Blick war von ungeweinten Tränen verschleiert. Meine Kehle war heiser vom lautlosen Schluchzen.
    Ich saß auf dieser verfluchten, harten Bank, gefühllos, ohne Willen. Fremde hasteten ständig an mir vorbei, zogen ihre Koffer hinterher, trugen ihre Taschen, ihre Rucksäcke. Stimmen und Sprachen mischten sich in einem exotischen Wirrwarr. Ansagen schallten aus den Lautsprechern; Zeitpläne und Verzögerungen, letzte Aufrufe. Ausgänge wurden angekündigt. Menschen gesucht. Flugzeuge, meist von Air France, landeten und dockten an. Andere flogen ab, ich konnte sie in der Ferne abheben sehen. Polizisten und Soldaten mit Maschinengewehren bummelten herum und schauten gelangweilt drein. Kunden betraten und verließen den Duty Free Shop, vor dem ich saß. Familien plapperten aufgeregt durcheinander.
    Meine eigene Familie … nur noch drei waren übrig. Meine Mutter. Meine Schwester. Ich. Ein Familienrumpf. Ein trauriger Überrest. Aber ich war nicht in der Lage, mir das einzugestehen. Ich konnte nicht daran denken, dass mein Vater für immer verschwunden war. Das war einfach unmöglich.
    Was ich wusste, das einzige, was ich mit stechendem Schmerz spürte: die ruhige, kleine Existenz, die ich mein Leben nannte, war in sich zusammengestürzt. Alles hatte sich als Posse entpuppt. Mein scheinbar schönes Leben war auseinander gerissen. All diese Kompromisse, Maskeraden, alle Lügen, die ich mir selbst erzählt hatte, lagen mit erschreckender Plötzlichkeit offen vor mir.
    Die Wartezeit am Charles de Gaulle-Flughafen kam mir wie eine Ewigkeit vor, gleichzeitig aber verging sie in kürzester Zeit. Ich hatte jegliches Gespür für Sekunden, Minuten, Stunden verloren. Welche Bedeutung hat Zeit für jemanden, der nicht in der Lage ist, seine Geister zu sammeln? Der sich selbst abhanden gekommen ist, sich völlig verloren hat; der lebt, atmet, aber ohne etwas zu fühlen? Als ob er durch einen nie endenden Albtraum schwämme …
    In Wien kam mich meine Cousine vom Flughafen abholen. Sie sah traurig aus, war aber ansonsten wie immer, gesprächig, fröhlich, und ich war ihr äußerst dankbar dafür. »Gehen wir einen Kaffee trinken«, schlug sie vor.
    Wir setzten uns ins Flughafencafé, zündeten uns eine Zigarette an und bestellten einen Capuccino. Alles lief so … normal ab! Dann fuhren wir zu ihr. Sie bereitete Nudeln mit Pesto und frischem Parmeggiano di Regiano zu. Ich war hungrig, schaffte es aber nicht, viel zu essen.
    Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Zug nach Hause. Vorgebeugt und leicht zitternd saß ich in meinem Abteil und beobachtete, wie die verschneite Landschaft vorüber glitt. Ich starrte auf die strengen Berge, die dunkelgrünen Nadelbäume. Ich hatte große Angst vor dem Moment meiner Ankunft. Ich hatte Angst vor dem Augenblick, wenn ich meiner Mutter gegenüberstehen würde. Ich rief Grégoire nicht an, obwohl ich mein Handy mitgenommen hatte. Er wäre keine Hilfe, keine Erleichterung gewesen. Er konnte mit dem Tod nicht umgehen, weil er ihn an seine eigene Sterblichkeit erinnerte. Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, was geschehen war, hatte er beinahe einen hysterischen Anfall bekommen. Ich hatte ihn beruhigen und unterstützen müssen. Unsere Wohnung zu verlassen war wie eine Flucht gewesen, eine Flucht vor seiner narzisstischen Selbstdarstellung.
    Der Semmering, Bruck, Leoben, Knittelfeld. Wir würden bald in Judenburg ankommen. Ich bekam immer größere Angst. Ich hatte die ganze Zeit still getrauert, wie es meine Art war. Wie konnte ich die Kraft finden, mit meiner Mutter umzugehen, deren Trauer sicherlich viel offensichtlicher sein würde? Was sollte ich tun, was sollte ich sagen, wenn sie schluchzend zusammenbrach?
    Alles, was ich wollte, war hier sitzen bleiben, weiterfahren, den Zug nie verlassen.

Wer er war, in Bruchstücken
     
    Meine Mutter schenkte mir ein Foto von meinem Vater, als sie wenige Monate nach seinem Tod nach Paris kam. Sie hatte dieses Foto gewählt, weil es meinen Vater genauso zeigte, wie er leibte und lebte.
    Er sitzt auf einem Felsen. Um ihn herum eine ausgetrocknete Bergwiese. Im Hintergrund ein weißer, wolkenloser Sommerhimmel. Er trägt eine dicke, rote Bergsteigerweste. Graue Hosen, Bergschuhe. Er hält sein Fernglas in der Hand. Die Sonne, die sein Gesicht bräunt, strahlt
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