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Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist
Autoren: Ian Morris
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Einleitung
    Des Bestatters Freund
    Mit dreiundzwanzig wäre ich   um ein Haar gefallen.
    In einer Schlacht. Es war am 26. September 1983, abends, gegen halb zehn. Ich saß in einem möblierten Zimmer im englischen Cambridge über eine gute alte Schreibmaschine gebeugt und tippte das erste Kapitel meiner Doktorarbeit in Archäologie. Ich war eben von vier Monaten Geländearbeit in den griechischen Inseln zurückgekehrt. Die Arbeit lief wie am Schnürchen. Ich war verliebt. Das Leben war schön.
    Ich hatte keine Ahnung, dass 2   000 Meilen östlich von Cambridge Stanislaw Petrow überlegte, ob er mich töten sollte oder nicht.
    Petrow war der stellvertretende Chef für Gefechtsalgorithmen im Serpuchow-15-Bunker, dem Nervenzentrum des sowjetischen Frühwarnsystems. Er war ein methodischer Mensch, Ingenieur, er schrieb Software; und – zum Glück für mich – neigte er nicht zur Panik. Aber als kurz nach Mitternacht (Moskauer Zeit) die Sirene losheulte, fuhr sogar Petrow auf. Auf der riesigen Karte der nördlichen Hemisphäre, die eine ganze Wand der Überwachungszentrale einnahm, begann eine rote Lampe zu blinken. Das bedeutete, dass in Montana eine Rakete gestartet war.
    Über der Karte erwachte eine Reihe roter Lettern zum Leben, die zusammen das schlimmste Wort ergaben, das Petrow kannte:
    Abschuss .
    Computer prüften ihre Daten, prüften sie noch einmal. Wieder blinkten die roten Lichter auf, diesmal mit größerer Gewissheit:
    Abschuss – Verlässlichkeit: hoch .
    In gewisser Hinsicht hatte Petrow diesen Tag erwartet. Nur sechs Monate zuvor hatte Ronald Reagan Mütterchen Russland als Reich des Bösen gebrandmarkt. Er hatte gedroht, die Amerikaner würden einen weltraumgestützten Raketenabwehrschild aufbauen, der dem Gleichgewicht des Schreckens ein Ende gemacht hätte, das nun seit fast vierzig Jahren den Frieden aufrechterhielt. Und dann hatte er angekündigt, die Aufstellung neuer Raketen zu beschleunigen, die gerade mal fünf Minuten nach Moskau brauchten. Gleich darauf hatte sich, als wollte man sich über die Verwundbarkeit der Sowjetunion lustig machen, eine südkoreanische Verkehrsmaschine in den sibirischen Luftraum verflogen und war dort zwei Stunden lang – angeblich orientierungslos – herumgekreuzt. Es dauerte mehrere Stunden, bis die Luftwaffe sie endlich fand. Sie war bereits wieder auf dem Weg in neutralen Luftraum gewesen, als ein sowjetischer Abfangjäger sie abgeschossen und dabei alle Passagiere getötet hatte – mit einem amerikanischen Kongressabgeordnetenan Bord. Jetzt, sagte der Bildschirm, hatten die Imperialisten zum finalen Schlag ausgeholt.
    Und dennoch … Petrow wusste, der Beginn eines dritten Weltkriegs sollte anders aussehen. Zu einem amerikanischen Erstschlag gehörte das Dröhnen von tausend Minuteman-Raketen über dem Nordpol, die ein Inferno aus Feuer und Strahlung signalisierten: ein großangelegter, frenetischer Versuch, die sowjetischen Raketen noch in ihren Silos zu zerstören, um Moskau jeder Reaktionsmöglichkeit zu berauben. Der Abschuss einer einzelnen Rakete war schierer Wahnsinn.
    Petrows Aufgabe bestand darin, dem Protokoll folgend, sämtliche vorgeschriebenen Funktionsprüfungen abzuspulen. Nur dass dafür keine Zeit mehr war. Er musste selbst zu einer Entscheidung kommen – einer Entscheidung über das Ende der Welt.
    Er griff zum Telefon. »Ich habe eine Meldung zu machen«, sagte er dem diensthabenden Offizier am anderen Ende der Leitung. Er versuchte sachlich zu bleiben. »Es handelt sich um einen falschen Alarm.« 1
    Der Offizier vom Dienst stellte keine Fragen, verriet keinerlei Nervosität. »Alles klar.«
    Einen Augenblick später waren die Sirenen abgeschaltet. Petrows Stab atmete auf. Der stellvertretende Chef hatte die Lage richtig erkannt; es war alles okay. Die Techniker machten sich an ihre vorgegebenen Routinen und klopften die Schaltkreise systematisch auf Störungen ab.
    Abschuss .
    Das rote Wort war wieder da. Ein zweites Licht erschien auf der Karte; eine weitere Rakete war unterwegs.
    Und dann leuchtete ein drittes Lämpchen auf. Und noch eines und noch eines – bis die ganze Karte in Flammen zu stehen schien. Jetzt übernahmen die Algorithmen, die Petrow selbst mitentwickelt hatte. Einen Augenblick lang blieb das Display über der Karte dunkel. Dann erwachte es mit einer neuen Warnung wieder zum Leben. Es kündigte die Apokalypse an.
    Raketenangriff .
    Der größte Supercomputer der Sowjetunion schickte die Nachricht automatisch den
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