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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen
Autoren: Dieter Moitzi
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Notaufnahme«, hören wir Grégoires schwache Stimme.
    Die Nacht ist still und kalt, grau, unscheinbar, desinteressiert. Die Straßenlaternen werfen einen milchigen Schein auf die Stadt, als wir die Avenue du Général Leclerc hinunter rasen. Sandra hält am Notfall-Eingang direkt vor der Klinik. »Ihr geht schon mal vor, ich parke das Auto und komm’ nach, so schnell ich kann«, sagt sie.
    Grégoire hat fast keine Kraft mehr. Wir stolpern in den Warteraum. Ein sachliche Frau sitzt hinter dem Empfangstresen. Sie ist dick, hat nie gelernt, wie man lächelt, schaut gelangweilt oder verärgert drein, oder was auch immer, es könnte mich gar nicht weniger interessieren. »Warten Sie einen Moment«, befiehlt sie, ohne aufzublicken.
    »Hören Sie, mein Freund hier kann nicht warten«, sage ich. »Er hat Höllenschmerzen.«
    »Name«, fragt die gelangweilte Frau, ihre Stimme bleibt flach und unbeeindruckt. »Adresse, Sozialversicherungsnummer, welche Medikamente nimmt er ein, bla bla bla.«
    »Kommt dann auch gleich ein Arzt?«, will ich wissen, während sie ein paar Scheine ausfüllt.
    »Sie nehmen jetzt Platz und warten. Wir rufen Sie, wenn ein Arzt frei wird«, die Frau verbeißt sich ein Gähnen.
    Grégoire windet sich, während er auf dem harten Plastiksessel kauert. Ich höre ihn mit den Zähnen knirschen. Ich knete meine Finger, meine Beine bewegen sich und kratzen ganz von alleine über den Fußboden. Das Wartezimmer sieht schäbig und grau aus und hätte einen neuen Anstrich dringend notwendig. Die typischen Krankenhausgerüche durchdringen alles, tasten sich in jede Ecke vor, Sorge und Angst liegen spürbar in der Luft. Ein Kind mit einer verbundenen Hand sitzt auf dem Schoß seines hageren Vaters. Eine alte Frau stöhnt von Zeit zu Zeit: »Au, au-a, au …« Ich sehe Ärzte wer weiß wohin hetzen. Ein Krankenwagen bringt eine Bahre mit einem bewusstlosen Unfallopfer.
    Sandra kommt hereingerauscht. Als sie uns auf unseren Sesseln sitzen sieht und als sie hört, dass wir warten müssen, regt sie sich sofort auf. Sie schikaniert die gelangweilt aussehende Frau hinter der Theke, zischt ihr zu: »Sie! Sie sollten uns besser einen Arzt besorgen, und zwar dalli! Wenn unserem Freund etwas passiert, mache ich Sie dafür verantwortlich!«
    Schließlich legen sie Grégoire auf ein Notbett in einer der Kabinen. Eine erste Ärztin, eine junge, müde Frau, untersucht ihn schnell. »Wir müssen weitere Untersuchungen durchführen«, sagt sie mit einem Seufzer. Sie berührt meinen Arm. »Ich verstehe, dass Sie ausflippen. Ihr Freund hat ganz offensichtlich Schmerzen. Aber wir können ihn nicht richtig behandeln, bevor wir wissen, was mit ihm los ist, okay? Wir tun unser Bestes, und so schnell wie möglich, okay?«
    Es ist jetzt zwei Uhr vorbei. Ich sage Sandra, sie solle nach Hause zu gehen, sie brauche Schlaf. Ich bleibe auf meinen Plastiksessel geschraubt und stiere auf die Silhouette meines Freundes auf dem Krankenhausbett, verknote meine Finger ineinander, auseinander, ineinander.
    Um 4 Uhr morgens hat man Grégoire geröntgt, ihm eine Blutprobe entnommen und sie analysiert. Die junge Ärztin sagt mir, Grégoire müsse im Spital bleiben, weil sie noch andere Untersuchungen durchführen wollten. Sie vermutet Gallensteine. Grégoire, endlich mit Morphin zugespritzt, ist auf dem Bett eingenickt. Ich nähere mich und streife über seinen Arm. Er öffnet seine Augen unter schweren Lidern. »Ich komme morgen wieder«, flüstere ich. »Ich bring’ dir dann was zum Umziehen, deine Zahnbürste und was du sonst noch brauchst, okay?«
    Erschöpft nickt er und driftet wieder weg.
    Ich wandere unter dem schwarzen und sternenlosen Nachthimmel nach Hause, mit einem Gewicht auf meiner Brust, das auch auf der Stadt zu lasten scheint. Die Straßen sind von einem Wind leergefegt, der sich wie das Ende der Welt anfühlt. Ich schreite gedankenlos, eingehüllt in Baumwolle vor mich hin. Ich weiß, dass es noch ein weiter Weg nach Hause ist, ich weiß, dass ich mindestens zwei Stunden brauchen werde, wenn ich zu Fuß weitergehe, ich weiß, ein Taxi wäre schneller. Ich will jetzt aber keine Entscheidung treffen, ich marschiere und marschiere und marschiere, und dieser seltsame Wind vom Ende der Welt schiebt mich vorwärts.

Der gefürchtete Anruf
     
    Ich hatte diesen Augenblick jahrelang befürchtet. Seit ich nach Paris gezogen war. Ich hatte das Verhängnis vorhergesehen, hatte eine unheilvolle Ahnung gespürt, mich auf die elenden Details mit
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