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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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Center der Indiana University in Indianapolis – das heißt: Armstrong fuhr auch spirituell in einer anderen Liga. Von ihm stammt der Satz: »Ich bin eine spirituelle Persönlichkeit, der das dazu notwendige Vokabular fehlt.« Es gab im Hospital ein kleines Mädchen namens Kelly Davison, mit der Armstrong gemeinsam die Chemo durchstand. »Ich wurde gesund, sie nicht.« Kurz vor Beginn der Tour 2000, berichtet Armstrong, habe er sie aus Europa angerufen und sich erkundigt: »Kann ich etwas für dich tun?«
    »Ja, fahr für mich in Gelb«, habe sie geantwortet.
    Kelly starb im August 2000.
    Lance Armstrong ist der erfolgreichste Radrennfahrer aller Zeiten. Dass auch er seine Grenzen hatte, beweist die Tatsache, dass er sich immer nur auf diesen einen Jahreshöhepunkt konzentrierte und sonst nicht viel abräumte. Aber trotz der letztendlich eindeutigen Überlegenheit des Texaners beharren manche Radsportkenner darauf, dass eigentlich »Ulle« der Bessere gewesen sei, zumindest der Begabtere. Zweiradästheten werden nicht müde, den perfekten Ullrich-Stilzu preisen, womit verglichen Armstrongs hochfrequentes Zeitfahrgezappel eher grotesk wirkte – interessanterweise hat noch niemand diesen Stil kopiert. Ullrich-Anhänger pochen darauf, dass der Deutsche eben nie in Bestform gegen seinen Rivalen antrat. Bernard Hinault, fünfmaliger Tourgewinner, erklärte während der Jubiläumstour 2003: »Es gibt keinen Besseren, wenn er wirklich austrainiert ist.« Armstrong selber nannte Ullrich den »von der körperlichen Anlage her wohl beste(n) Radrennfahrer der Welt«. Die – müßige – Frage müsste letztlich lauten, was der Armstrong-Kopf mit dem Ullrich-Körper angestellt haben würde.
    Einige werden aus der Schule noch Goethes Vers kennen:
    »Alles gaben Götter, die unendlichen,
    Ihren Lieblingen ganz,
    Alle Freuden, die unendlichen,
    Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.«
    Was, fragte ich mich nach der 2004er Tour, könnte Armstrong, der damals den Fünfer-Rekord gebrochen und damit mehr erreicht hatte als alle seine Vorgänger, noch fehlen? Na klar doch, Ullrich beim Zeitfahren zu überholen. Die letzte, die größtmögliche Demütigung des Rivalen, sie wurde ihm am Ende zuteil; Ullrich hatte dergleichen 1997 selber an Richard Virenque praktiziert.
    Spätestens seit 2004 schwang in einigen Äußerungen Armstrongs eine leichte Geringschätzung Ullrichs mit; das kolportierte Wort von den »Clowns, die man meine Konkurrenten nennt und die nur im Juli Rennen fahren können«, bezog sich wohl vorrangig auf ihn. Es gibt gewiss auch Perspektiven, von denen aus betrachtet Armstrong als Clown erscheint, aber erstens stehen die in diesem Kapitel nicht zur Debatte, und zweitens gilt das für jeden Vertreter der Gattung Homo sapiens. Der Amerikaner nimmt Ullrich nichtmehr für voll, weil er nicht wirklich alles gegeben, seine unglaublichen Fähigkeiten vergeudet und Niederlagen wie Lappalien hingenommen hat. Weil er nichts von der existenziellen Erschütterung weiß, die Armstrong erlitten hat. Letztlich ist dieser Mann in seiner Eigenschaft als Mister Hundertzwanzigprozent nur von seiner Krankheit her zu verstehen, und zwar nicht nur in dem inzwischen trivialen Sinne, dass sie ihn zu dem Champion gemacht hat, der sieben Mal die Tour de France gewann, sondern in jenem, dass sie ihn nie loslassen, ihm immer im Nacken sitzen wird. »Ich denke, ich werde irgendwann an Krebs sterben«, lautet ein Kernsatz seines ersten Buches ›Tour des Lebens‹, und der korrespondiert mit Armstrongs permanenter Beteuerung, dass er zwar ohne den Krebs nie etwas gewonnen hätte, dass aber nicht Gewinnen sein Thema sei, sondern die Angst vorm Verlieren. Diese Worte beschreiben weniger sein Verhältnis zur Konkurrenz als vielmehr jenes zu seiner Krankheit. Man kann den Krebs nicht wirklich besiegen, aber man darf um keinen Preis gegen ihn verlieren, denn »verlieren ist wie Sterben«. Dass sie tödlich sein kann, ist das Furchterregende an der Niederlage, und wenn es überhaupt möglich ist, dass eine Niederlage zum Tode führt, dann darf man nicht verlieren, niemals ...
    Nach eigener Auskunft hatte Armstrong mit seinem Krebs gesprochen und ihm gedroht: »Du hast dir den Falschen ausgesucht«, und ich vermute, dass er vor ihrem ersten Zweikampf anno 2000 innerlich mit Jan Ullrich genauso geredet hat. Armstrong hatte Angst vor dem Krebs, und er hatte Angst vor Ullrich (er selber hat das Wort auf einer Pressekonferenz anno 2000 verwendet). Theoretisch
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