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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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AnderthalbZentimeter breit sind die Reifen – in solcher Landschaft wäre ein derart filigranes Konstrukt normalerweise sofort zuschanden. Die Serpentine schließt den Berg auf. Sie öffnet ihn, der sonst spröde eine Fußbesteigung heischen würde, der Geschwindigkeit.
    Und ich will unbedingt hinauf.
    Dieses Erstürmen- und Erklimmenwollen hat keinerlei praktischen Sinn. Eher hat es mit der Lust am Widerstand zu tun, mit überschießender Vitalität, die zumindest in meinem Falle stets schneller als gedacht an ihre Grenzen stößt, davon aber erstaunlich unbeirrbar bleibt, sowie mit dem tröstlichen Wissen, dass der Weg das Ziel ist. Denn ist man oben, handelt es sich zwar um eine temporäre Erlösung von den Anstrengungen des Hinauf, aber das große Gefühl ist ebenfalls dahin. Und begehrt Erneuerung. Gottlob gibt es viele Serpentinenstraßen. Schier endlose und kürzere. Brutal steile, für jede Art Blamage gute, und gemäßigt dahinfließende. Anspruchsvolle und weniger anspruchsvolle. Hochfrequentierte und eher verwaiste. Wobei man natürlich auch immer wieder dieselbe wählen kann – kein Einwand gegen velozipedäre Monogamie. Vielleicht sind das sogar die wahren Glückspilze, die ihre Serpentinenstraße sozusagen vor der Haustür haben. Gewiss, sie erleben nicht so viel wie die Serpentinensammler, aber sie müssen dafür einen weit geringeren Aufwand treiben. Sie können mit ihrer Zeit haushalten. Und letztlich kommen sie auch auf ihre Kosten. Nach einer Weile kennen sie die Holde in- und auswendig und wissen genau, wie man sie fahren muss, mit welchem Tempo man sie am meisten genießen kann und an welcher Passage sie zur herzfrequenziellen Klimax gelangen sollten.
    Soweit zunächst zur Serpentine beziehungsweise Passstraße. Die ist freilich nur ein so genanntes Sahnehäubchen,denn wer hat schon einen veritablen Berg vor der Haustür? Ich beispielsweise bin die wenigste Zeit auf Serpentinen unterwegs, aber letztlich um ihretwillen überhaupt. Ich möchte nicht in einer Welt ohne Serpentinen leben.
    Ganz unabhängig vom Streckenprofil bedeutet Radfahren für mich die stets neue Erfahrung der simplen, in meinem Schreibtischalltag freilich nicht durchgängig manifesten Tatsache, dass ich einen Körper besitze, mit Muskeln, Sinnesorganen, Poren, einem Herz und zwei meist mangelhaft genutzten Lungenflügeln. Kurzum: dass ich lebe.
    Radfahren ist die schnellste Fortbewegungsart, die dem Menschen aus eigener Kraft zu Gebote steht. Man ist auf dem Rad tatsächlich automobil. »Ich fahre als Beweis dafür, dass auch in unserer wissenschaftlichen und hoch technisierten Welt der menschliche Körper immer noch ein Wunder ist«, erklärte der Radprofi Lance Armstrong, für den diese Feststellung fraglos zutrifft.
    Das Rad ist ein Vertrauter, keines fühlt sich an wie das andere und vor allem nicht wie das eigene. Je länger man trainiert, desto mehr vergrößert sich der Aktionsradius. Distanzen, die mir früher von München aus unerradelbar weit schienen, empfinde ich heute als vergleichsweise harmlos; Tegernsee, Schliersee, Ammersee – und ihnen folgend die Alpen – sind mit der Zeit immer näher gerückt. Wenn ich mich mit Freunden irgendwo draußen auf dem Lande auf ein Bier verabrede und sie mit dem Auto dorthin fahren, während ich das Rad nehme, heißt es beim Abschied dann: Du Armer musst jetzt die ganze Strecke in die Stadt zurückradeln. Wo es doch heißen müsste: Du Glücklicher darfst jetzt aufs Rad. Ich werde mich am leichtesten fühlen. Ich werde der Nüchternste sein daheim.
    Wenn es nach mir ginge, müssten Berge immer nur nachoben führen; ich bevorzuge die zwiespältigen Wonnen der Endorphin-Ausschüttung. Bergab halte ich mich sehr zurück. Zum einen teilt sich mir die Freude daran einfach nicht mit, zum anderen ist Adrenalin ein dummes Hormon, das Freude ohne Anstrengung suggeriert und die nur allzu begründete Angst übertölpeln will. Man könne sich fragen, ob es klug sei, auf diesen schmalen Reifen mit 90 Stundenkilometern einen Berg hinabzuschießen, sagt der Telekom-Fahrer Rolf Aldag in der Tour-de-France-Doku ›Höllentour‹ und kommt zu dem nahe liegenden Schluss: »Es ist nicht sehr klug.« Also zerre ich an den Bremsen, bis mir die Finger wehtun, und wenn man von einem Zweitausender herunterrauscht, ist dies vergleichsweise schnell der Fall.
    Vom Sturzrisiko abgesehen, vor welchem mich meine an Feigheit grenzende Vorsicht bergab beziehungsweise mein großartiges Konzentrationsvermögen
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