Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
Vom Netzwerk:
abgescheuerten Stelle hat man’s kapiert. Im Übrigen habe ich mit der Bestellung von einem Kilo Vaseline einer Apothekerin die indiskrete Frage entlockt, was ich mit dieser Menge denn anfangen wolle. Ich fand ihre spontane Neugier anrührend und antwortete in introvertierter Unbefangenheit, ich bräuchte das Zeug
für den Hintern
. Nachdem ich in ihrer Miene die Missverständlichkeit meiner Auskunft gespiegelt sah, präzisierte ich dahingehend, dass ich keineswegs ein Homosexuellen-Bordell betreibe, sondern bloß Radfahrer sei. Ich hatte nicht den Eindruck, sie mit dieser Auskunft wirklich zufriedengestellt zu haben.

    Zweitens: Die Beinrasur – nass oder trocken?
    Was mich betrifft: inzwischen nur noch trocken (danke für den Tipp, Mister Armstrong, von selber wäre ich seltsamerweise nicht darauf gekommen). In der Enthaarungs-Frühphase rasierte ich mich noch nass, und entsprechend zersäbelt sahen meine Beine aus. Einzig bei einer gegenseitigen Rasur vermag die Nassversion beachtlichen Reiz zu entfalten.

    Drittens – und nun folgt die angekündigte Beantwortung dieser längst gestellten Grundsatzfrage: Ist es nicht anmaßend oder gar lächerlich, etwas als Passion zu bezeichnen, das andere so unendlich viel härter betreiben und besser können?
    Also: Nein. Weil: Der geldwerte Wettkampf ist ein kurzes Intermezzo und Jugendprivileg. Mit zunehmendem Alter – und das bedeutet: die meiste Zeit – fährt jeder nur mehr gegen sich selbst. Das heißt nicht nur: jeder, wie er kann, sondern auch: jeder gegen einen gleich starken Gegner. Objektiv mag es extreme Leistungsunterschiede geben, subjektiv schrumpfen sie einzig auf den Grad der Ernsthaftigkeit, mit der dieser Zweikampf mit sich selbst betrieben wird.
    Auch der größte Freak hört irgendwann auf, die extremen Steigungen zu fahren oder sich mit jedem Überholer zu duellieren. Gelegentlich wird diese der Einbuße an Kraft geschuldete allmähliche Kapitulation mit der Begründung kaschiert, man sei halt vernünftiger geworden, was aber ihrer Fatalität nichts nimmt. In Wirklichkeit kommt der Fuchs nicht mehr an die Trauben und formuliert sich die passende Philosophie des allmählichen Traubenverzichts als Schutzwall gegen die Zumutungen des Älterwerdens. Ich habe auch keine Idee, wie man sich dieser Schweinerei der Natur anders stellensollte – außer man malt sich permanent aus, wie schrecklich es wäre, ewig jung und blöd bleiben zu müssen.
    Zugleich ist es immer wieder schön und zugleich tröstlich, wenn man eine Horde fröhlicher älterer Herren auf der Straße sieht, bäuchig die meisten, aber mit ordentlich Schmackes in den Beinen und vor allem nicht mehr jenem Rigorismus im Gesicht, der ihre Beschäftigung zur Tortur erhebt beziehungsweise niederdrückt. Die späte Passion ist zwar eine reduzierte, aber immerhin eine noch vorhandene.
    Jedenfalls erkennt auch der Trainierteste einmal, dass es nicht mehr um notorisch expandierende Ziele gehen kann, sondern dass sich die Kreise vielmehr wieder zu engen beginnen. Die Leistungskurve hat ihre größte Amplitude für immer hinter sich gelassen. Etwas Neues beginnt, ein Rückzug, ein Davonlaufen, in gewissem Sinne auch eine Umkehr dahin, von wo aus man vor Jahren aufgebrochen ist, um sein Limit zu erkunden. Das kann sich hinziehen, ein paar Agile brauchen erstaunlich lange, bis ihr Lebensenergiequantum aufgebraucht ist. Möglicherweise lädt man die Batterien, aufs ganze Leben gerechnet, durch Sport besser auf, möglicherweise vernutzt man sie schneller, wer weiß das schon? (Ich tippe mittlerweile eher auf Variante zwei.) Aber zur Neige gehen sie mit fataler Gewissheit, und zwar permanent.
    »Als geworfenes In-der-Welt-Sein ist das Dasein je schon seinem Tode überantwortet«, notierte Martin Heidegger (›Sein und Zeit‹, S. 259). »Seiend zu seinem Tode, stirbt es faktisch und zwar ständig, solange es nicht zu seinem Ableben gekommen ist.« Capito? Sogar ein Lance Armstrong war 2001 hinauf nach L’Alpe d’Huez sterbend unterwegs, 190er Puls und 20 Stundenkilometer bei über zehn Prozent Steigung und dennoch nichts als Sein-zum-Tode, unentrinnbar, wenngleich muskulär gut kaschiert, seines Ablebens nichteingedenk, aber gewiss. Zwei Minuten hinter ihm starb Ullrich unter vergleichbaren Prämissen vor sich hin. Beide glaubten, sie lieferten sich ein Wettrennen, aber das war nur vordergründig so. Auch ich bin dort und anderswo sterbend unterwegs gewesen, lächerlich weit entfernt von den virilen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher