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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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ein einziger zusammenhängender Muskel, wenn er aus dem Sattel ging und die Berge hinaufjagte, als sei sein Herz eine Nähmaschine. Ullrich dagegen fährt im Grunde nur aus den Oberschenkeln und aus der Gesäßpartie, er steht fast nie – 1997 tat er’s noch –, tritt mit unglaublichen Kräften, und dementsprechend sehen seine Schenkel aus: wie die eines Titanen, wie der Wunschtraum eines Bodybuilders. Allerdings ist Ullrichs Stil jederzeit verkrampfungsgefährdet, wenn es nicht läuft; dann wirkt er nicht mehr elegant, sondern überfordert, wie einer, der es mit Gewalt zwingen will, aber einen zu großen Gang dafür aufgelegt hat. Gebetsmühlenartig wiederholt er seit 2000 in Interviews den Satz »Meine Stärke ist die Kraft«, Jahr für Jahr präsentierte er immer dickere Schenkel – Armstrongs Beine sahen daneben fast filigran aus –, Jahr für Jahr ließ er sich in den Bergen abhängen, weil er mit seinem Großgang-Sitzstil nicht so beschleunigen kann, und Jahr für Jahr erzählen uns die hiesigen T V-Kommentatoren , dass dem Jan die Rhythmuswechsel eben nicht so lägen und er jetzt nichts anderes tun könne, als
seinen Stil
und
sein Tempo
zu fahren. Alles Unfug. Er hätte seinen Stil modifizieren können. Nicht komplett ändern, bloß modifizieren. Armstrongan seiner Stelle hätte es getan. Ich weiß nicht, ob Ullrich 1997 und 2003 kleinere Gänge trat oder bloß unverkrampfter gewesen ist, jedenfalls fuhr er mit schnellerer Trittfrequenz und wurde nicht distanziert. Aber der Sturkopf siegte, Ullrich schlug genau die entgegengesetzte Richtung ein und ging lieber in den Kraftraum. Das Ergebnis ist bekannt. Er hat sich in der Sackgasse seines Stils verrannt.
    Armstrong war nicht nur der beste Radfahrer, sondern auch der durchgeknallteste Trainierer aller (bisherigen) Zeiten 1 .
    »An einem legendären Novembertag außerhalb der Saison fuhr ich geschlagene viereinhalb Stunden durch einen der schlimmsten Gewitterstürme in Austin seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Ein Niederschlag von 18 Zentimetern, Überflutungen, und überall waren die Straßen gesperrt. Ich liebte es«, beschreibt er es selbst. Sehr schön auch der Telefondialog mit dem britischen Radrennfahrer David Millar, der eben ein paar Drinks genommen hatte und seinen Freund Lance anrief:
    Millar: »Bitte, sag mir nicht, dass du auf dem Rad sitzt.«
    Armstrong: »Ich sitze auf meinem Rad.«
    Millar: »Nein! Du Bastard! Wir haben den gottverdammten 1. Dezember! Wie lange sitzt du schon im Sattel?«
    Armstrong: »Seit dreieinhalb Stunden.«
    Während Armstrong, der Asket, jeden Tag und also auch bei Schneeregen aufs Rad stieg, sagte Ullrich, der Genießer, seinem Betreuer Rudi Pevenage schon mal am Telefon, er fahre jetzt los und legte sich wieder ins Bett. Armstrong fuhrdie Touretappen im Frühjahr ab, Bergankunfts- und Zeitfahrparcours mehrere Male, bis er die Strecke in- und auswendig kannte, Ullrich genügte, wenn überhaupt, eine einmalige Visite, notfalls auch ein Video wie vor dem Zeitfahren in Nantes 2003, als er keine Lust hatte, wie Armstrong im Regen herumzukurven, und gerade aufstand, als die U S-Postal -Mannschaft ins Hotel zurückkam – und dann beim Rennen stürzte. Armstrong kümmerte sich auch noch um das letzte technische Detail (»Im Prinzip ist die Tour de France ein mathematisches Problem«) und klingelte seine Betreuer schon mal nachts aus dem Bett, wenn seine durchschnittlichen Trainingspulswerte um einen Schlag höher als normal lagen, Ullrich ließ die Dinge laufen. Während der Amerikaner im Frühling die ersten Rennen gewann, brach Ullrich im Frühling die ersten Rennen ab. Ullrich hasste Regenwetter und fuhr lieber, wenn es heiß war, Armstrong war das Wetter einerlei. Armstrongs gesamtes Team hatte dem Boss zu gehorchen und sich bis zum letzten Quäntchen Kraft für ihn aufzuopfern, Ullrich duldete Nebengötter wie den Sprinter Erik Zabel in seiner Crew, der ihn Berghelfer kostete und ein schlechter Mannschaftszeitfahrer war, und er war 2004 sofort bereit, für den vor ihm platzierten Andreas Klöden zu fahren.
    Ähnlich disparat die öffentlichen Äußerungen der beiden. Ullrich sprach gern und oft von den extremen Schmerzen, die insbesondere eine Bergankunft bereitet, für Armstrong war der Berg nichts anderes als eine Chance, die anderen abzuhängen. Von Armstrong stammt der Ausspruch: »Siegen ist nicht alles, Siegen ist das Einzige«; erstaunte Beobachter hörten dagegen Ullrich schon im Jahr 2000 zum ersten Mal
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