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Die beiden Nachtwächter

Die beiden Nachtwächter

Titel: Die beiden Nachtwächter
Autoren: Karl May
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    Die beiden Nachtwächter
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    Karl May
    Die beiden Nachtwächter
    Humoreske
    (877)
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    lit era scripta manet
    Karl May
    (25.02.1842 – 30.03.1912)
    1. Ausgabe, September 2006
    © eBOOK-Bibliothek 2006 für diese Ausgabe
    I.
    W er da etwa glaubt, daß blos der Adelige seine Ahnen
    zählt und mit Stolz von den Verdiensten seiner Vorfahren
    spricht, der befindet sich in einem gar gewaltigen Irrthume,
    denn die Pietät, welche so gern nach rückwärts blickt auf
    die Reihe der Urältern, um ihrem Beispiele nachzuahmen,
    ist einem jeden Menschen eigen, nur bei dem Einen mehr
    oder weniger ausgeprägt als bei dem Andern und vom Kai-
    ser bis herab zum Nachtwächter durch alle Abstufungen
    der Gesellschaft zu bemerken.
    Bis herab zum Nachtwächter?
    Jawohl! Und wer das etwa nicht glaubt, der mag nur
    nach Ammerstadt oder nach Wummershausen gehen, um
    von der Wahrheit der obigen Behauptung vollständig über-
    zeugt zu werden.
    Beide Städte liegen etwas über zwei Stunden weit von
    einander entfernt, und die Verbindung zwischen ihnen
    wird durch einen Stellwagen erleichtert, welcher täglich
    zwei Mal hin und zurück geht. Die Straße, welche er dabei
    zu benutzen hat, ist zu beiden Seiten mit hohen Pappel-
    bäumen eingefaßt, geht immer in schnurgerader Richtung
    fort und würde auch nicht die mindeste Abwechslung bie-
    ten, wenn sich nicht grad auf der Hälfte des Weges ein
    Wirthshaus präsentirte, auf dessen Schilde in vielfach ver-
    witterten Lettern die Inschrift „Gasthof zur goldenen Ente“
    zu lesen ist.
    In Ammerstadt, ganz draußen im letzten Hause, wohnt
    der ehrsame Schuhmachermeister Hillmann, welcher von
    den Vätern der Stadt mit dem wichtigen Amte betraut
    worden ist, über das nächtliche Wohl seiner lieben Mit-
    bürger zu wachen, und in Wummershausen, ganz draußen
    im letzten Hause, wohnt der ehrsame Schneidermeister
    Bachmann, welcher von Abends zehn bis früh vier Uhr zu
    sorgen hat, daß Nichts geschehe, was dem Glücke der ihm
    anvertrauten Menschenkinder Gefahr bringen könnte.
    Hill mann und Bach mann , das ist nicht etwa nur so von
    ungefähr, sondern die beiden Nachtwächter sind auch
    wirklich Männer , die Etwas zu bedeuten haben, und es
    ist wahrhaftig kein Spaß, für die Sicherheit einer ganzen
    Stadt die Verantwortung zu tragen. Und diese Verantwor-
    tung ist nicht etwa erst neueren Datums, sondern sie hat
    auf den Familien gelegen schon seit Menschengedenken,
    da die Hillmanns in Ammerstadt und die Bachmanns in
    Wummershausen das Nachtwächteramt bekleidet haben,
    so lange überhaupt von einem Hillmann oder Bachmann
    die Rede gewesen ist. Ist es daher ein Wunder, daß sie
    stolz sind auf die Wohlthaten, welche von ihren Familien
    ausgegangen sind, und daß sie ihren Dienstspieß als eine
    Reliquie betrachten, welcher mehr Ehre gebührt als selbst
    dem berühmten Backzahne des heiligen Laurentius? —
    Heut ist der zweite Weihnachtsfeiertag. Draußen schneit
    es, was nur immer vom Himmel herunter will, drin in der
    Stube aber knistert und pufft es in dem alten Kachelofen,
    hinter welchen auf dem Großvaterstuhle ein Mann sitzt,
    den wir uns etwas näher betrachten müssen. Lang und dürr,
    ja, fast übermäßig lang und dürr ist die hagere, ausgetrock-
    nete Gestalt; lang und dürr sind die beiden Beine, welche in
    einem Paar Lederhosen stecken, die früher einmal schwarz
    gewesen sind, jetzt aber in allen möglichen Farben schim-
    mern; lang und dürr sind die Arme, mit denen er, jetzt
    grad in einer Rede begriffen, wie mit Windmühlenflügeln
    in der Luft herum gesticulirt; lang und dürr ist auch das
    Gesicht, aus welchem eine Nase hervorragt, deren schar-
    fen Rücken man sofort als Rasirmesser benutzen könnte,
    während die graden und dünnen Lippen und die kleinen,
    unruhig funkelnden Augen auf einen Charakter schließen
    lassen, mit dem nicht gut Kirschen essen ist. Lang und dürr
    ist Alles an ihm, nur nicht das zweifelhafte Kleidungsstück,
    welches nicht viel mehr als die Hälfte seines Oberkörpers
    bedeckt und in ein Paar Aermel mündet, welche die ge-
    fährliche Passage über den spitzen Ellbogen hinweg schon
    seit langer Zeit nicht mehr gewagt zu haben scheinen.
    Dieses Ding war zu Urgroßvaters Zeiten einmal ein Pelz
    und hat gar manchen, manchen Sturm erlebt, was am Ende
    nicht viel zu bedeuten hätte, denn so eine alte, gutwillige
    Schafhaut vermag schon Etwas auszuhalten, aber —
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