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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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nur an Sport zu denken«. Die gute badische Küche, besonders das Naschwerk und der Wein, interessierte ihn ebenfalls – was man einem Menschen mit seinem Kalorienverbrauch ja nicht verdenken kann. Er wolle, ließ das Großtalenteinmal verlauten, »mehr sein als nur Radfahrer«. Und so kam es jahrein, jahraus zu dem staunenswerten Schauspiel, dass nach jeder Winterpause ein zuweilen schon grotesk übergewichtiger Jan Ullrich ins Blickfeld der Öffentlichkeit trat. Dass der Schlemmer ausgerechnet wegen eines Hungerastes die 98er Tour verlor, war schon wieder komisch – ungefähr so symbolhaft-komisch wie sein Führerscheinverlust vier Jahre später, als er angetrunken mit seinem Porsche ausgerechnet einen Fahrradständer umfuhr.
    1999 – Ullrich pausierte verletzungsbedingt – erschien ein vom Krebs genesener Wundermann in Frankreich und gewann in skurrilem Stakkato-Fahrstil die Tour. Damals fehlte neben Ullrich auch Marco Pantani, der Champion des Vorjahres, wegen einer Verletzung, und man nahm den Ami mit seinem Propellertritt nicht für voll. Im Jahr 2000 legte Armstrong nach und distanzierte nunmehr die gesamte Weltelite. Allerdings: Mit der Ullrich-Vorbereitung hätte er die Tour wohl nicht gewonnen.
    Damals erklärte Ullrich selbstkritisch, »für einen guten Platz« werde es »wahrscheinlich immer reichen«, aber um Armstrong zu schlagen, müsse er professioneller werden. Ullrich war imstande, sich binnen kürzester Zeit vom schnaufenden Dickerchen in einen Weltspitzenfahrer zu verwandeln, was die staunenswerten Fähigkeiten seines Premiumkörpers zeigte, andrerseits beklagte er sich, dass er oft krank sei und dafür nun wirklich nichts könne, ohne einmal darüber nachzudenken, ob diese Anfälligkeit etwas mit seinen rasanten Abmagerungskuren und Formaufbau-Eskapaden zu tun haben könnte. Armstrong war nie krank. Der Amerikaner brachte eine im Duell mit dem Krebs erworbene einzigartige
Zweite Gesundheit
– durchaus im Sinne Nietzsches – mit. Nie wäre der texanische Ehrgeizling auf die Idee gekommen,wie Ullrich seine Popularität in Form von Banketten zu genießen und sich blind auf die Regenerationskraft seines Körpers zu verlassen. Sein Körper, das hatte ihn der Krebs gelehrt, war ein Kredit mit begrenzter Laufzeit, während Ullrich den seinen eher als ein sicheres Erbe betrachtete.
    Die Verantwortlichen vom Team Telekom installierten ein regelrechtes Überwachungssystem, um den Appetit ihres Stars zu kontrollieren – vergebens. Starttermine mussten abgesagt, Trainingspläne geändert werden. Der Witz dabei: Ullrich schien es nicht weiter zu bekümmern. Der junge Mann strahlte einen unglaublichen Gleichmut aus, er war ja das größte, das unerschöpfliche Talent. Er konnte, was keiner konnte: mit einem Hängebäuchlein Wattzahlen treten, bei denen anderen schwindlig wurde, und in wenigen Wochen Weltklasseform aufbauen. Inwieweit mecklenburgische Herkunft plus badisches Umfeld zu Ullrichs an Realitätsverweigerung grenzender Sturheit beitrugen, sei hier als folkloristisches Diskussionsthema in den Raum gestellt. Jedenfalls war das deutsche T V-Publikum von Armstrongs finalen Antritten mehr deprimiert als sein Kontrahent; diese Ignoranz-Leistung war vielleicht Ullrichs allerbeachtlichste. Seiner Niederlagenhinnahmebereitschaft wohnte etwas Großartiges und zugleich Stumpfsinniges inne. Erinnern wir uns an L’Alpe d’Huez 2001, als Armstrong sich vor seinem finalen Antritt umdrehte, Ullrich in die Augen sah, als wolle er ihn vor dem Todesstoß noch verhöhnen, und dann den Deutschen mit seinem Blitzantritt abhängte. Jeder andere Fahrer hätte tags darauf den Zweikampf eingestellt und gedacht: Du kannst mich mal, ich werde mich nicht weiter von dir vorführen lassen. Nicht so Ullrich: Der stürzte sich stets von Neuem in das zumindest 2001 für ihn nicht zu gewinnende Duell.
    Früher oder später hat Armstrong indes auch UllrichsPanzer zerbrochen, wie er das Ego jedes seiner möglichen Konkurrenten zerstörte und sie allesamt zu Statisten erniedrigte. Mit einer unangeknacksten Psyche hätte Ullrich seinem Gegner 2003 in den Pyrenäen gewiss den Fangschuss gegeben; 2004 und 2005 hat der Deutsche nicht mehr ernsthaft attackiert.
    Dem Phlegma Ullrichs entsprachen die dicken Gänge, die er, wenn er in Form war, unvergleichlich elegant fuhr, der Cholerik Armstrongs das Gekurbel seiner kleinen Übersetzungen. Armstrong fuhr aus dem gesamten Körper, keiner stand so in den Pedalen wie er, er agierte wie
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