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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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äußern, er sei mit dem zweiten Platz insgesamt zufrieden. »Ich weiß nicht, was das soll«, kommentierte Eddy Merckx.Ullrich sagte einmal über eine Etappe, in dieser Gegend interessierten ihn eher die Weine, Armstrong hatte damals vermutlich keine Ahnung, was das ist: Wein.
    Zu diesem Bild passen auch Physiognomie und Mimik der Kontrahenten: Armstrongs stählernes, leidensloses, allzeit kampfbereites, wie gemeißeltes Antlitz, frei von Emotionen, mit kalten Augen, und dagegen die eher weichen, runderen, freundlich-harmlosen, keinem Gegner Böses verheißenden Züge Ullrichs, dem man gern Erlösung von jenen Qualen wünschte, die in Armstrongs Miene gar nicht erst zu entdecken waren – der sensible Schönwetterfahrer und das stampfende Stahlross.
    Der Texaner hat mehrfach von sich gesagt, er sei besonders gut, wenn er Wut im Bauch habe, Ullrich ist viel zu phlegmatisch für solche Gefühle. Armstrong besaß einen Killerinstinkt, seine Aggressivität konnte es mit der von Mike Tyson aufnehmen, Ullrich ist auch während des Rennens immer nett. Armstrong besaß die Fähigkeit, aus Niederlagen Kraft zu ziehen, wobei für ihn jeder Nicht-Sieg eine Niederlage war. Man darf sich ausmalen, was in ihm vorging, als er anno 2000 bei den Olympischen Spielen zwei Mal von Ullrich distanziert wurde, der Olympiasieger im Straßenrennen und Olympiazweiter im Einzelzeitfahren wurde (Armstrong 13. und 3.). Dass Armstrong 2001 so gut war wie niemals wieder – auch wenn die jeder Langzeiterinnerung bare Sportjournaille den 2004er Armstrong als den Besten überhaupt feierte –, lag vor allem an der von ihm so empfundenen Schmach von Sydney.
    Nach der Tour 2003, als Ullrich seinen Rivalen bei drei Etappen hinter sich lassen konnte und in der Gesamtwertung näher an ihn herankam als jemals zuvor, sagte er, dies sei wie ein Sieg für ihn gewesen. Bei Armstrong dagegenschellten die Alarmglocken. Im Jahr darauf nahm er Ullrich, der diesmal nur Vierter wurde, mehr als neun Minuten ab. Kommentar Armstrong: »Die Frage ist: Was machst du an Weihnachten? Ich fahre Rad. Was tust du am 1. Januar? Ich fahre Rad. Wenn du aber sechs Wochen vor der Tour zehn Kilo Übergewicht hast, schaffst du es nie.«
    Armstrongs zweites Buch trägt den Titel ›Every Second Counts‹ (›Jede Sekunde zählt‹). Exakt nach diesem Motto hatte er sich auf jede Tour, aber besonders auf die 2004 vorbereitet. Auf einmal sah man den Favoriten bei den Massenankünften der Flachetappen mitspurten, zwar aussichtslos gegen die Sprintspezialisten, aber den Klassementfahrern plötzlich im Sprint deutlich überlegen. Offenbar hatte Armstrong genau das im Winter verstärkt trainiert, denn sein Zittersieg im Jahr zuvor hatte ihn gelehrt, dass er vermutlich nie wieder allein auf einem Berg ankommen würde, und er kam seitdem tatsächlich nie wieder allein oben an. Also trainierte er für die Bonifikationssekunden, die den ersten drei Fahrern im Ziel gutgeschrieben werden, und gewann drei Bergetappen im Schlusssprint. Ullrich wäre nie auf den Gedanken gekommen; erstens sowieso nicht und zweitens weil ein Stilist nicht sprintet, das ist unter seiner Würde.
    Seinen 6 1-sekündigen Rückstand auf Armstrong beim Zeitfahren in Besançon 2004 erläuterte Ullrich mathematisch korrekt, aber trotzdem fast dadaistisch mit den Worten: »Eine Minute ist gar nicht viel, wenn man überlegt: etwa eine Sekunde pro Kilometer.« Den Tour-Prolog 2000 – zwölf Sekunden Rückstand auf Armstrong – kommentierte er: »Ich hatte mit mindestens 20 Sekunden gerechnet.« Nach der Demütigung durch Armstrong in L’Alpe d’Huez 2001: »Man muss es positiv sehen, ich bin fast zwei Minuten näher an ihm dran als voriges Jahr.« Nach dem Einzelzeitfahren beiden Olympischen Spielen 2004, als nun wirklich jeder von seinem Sieg ausging (Armstrong war nicht am Start): »Platz sieben ist wenigstens einstellig.« Und so fort.
    Es ist eben letztlich eine Sache der Einstellung. Armstrong hat selbst oft genug betont, dass er ohne seine Krebserkrankung nie die Tour de France gewonnen hätte. Ullrich hatte auch eine Art Lebenskrise, nur die war ein Witz dagegen; sie bestand aus einer Knieverletzung, einem harmlosen Autounfall infolge von Frustsaufen und einer Sperre wegen ein paar Ecstasy-Pillen. »Ich weiß nicht, ob Jan noch Radfahrer ist«, stöhnte sein genervter Teammanager Walter Godefroot im Krisensommer 2002 in die Mikrofone. Dem einen drückte Merdingen die Daumen, dem anderen die Krebskranken im Medical
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