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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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war der Krebs stärker, aber Armstrong hatte ihn besiegt. Theoretisch war vielleicht auch Ullrich stärker, aber er ist in der Chemotherapieunausgesetzter Armstrong’scher Attacken allmählich bis zur Harmlosigkeit verbrannt ...
    Allerdings sollte nunmehr und auch zugunsten des realen Jan Ullrich die Frage wiederholt werden: Was soll der Unsinn? Armstrong hat mit dem Radsport und der Selbstvermarktung enorm viel, Ullrich sehr viel Geld verdient. Keiner von beiden wird materiell je darben müssen. Am Ende seiner Karriere wird Ullrich ungefähr denken: Endlich ist dieser Stress vorbei, und ich kann richtig zu leben beginnen. Gut möglich, dass es für ihn in Sachen Körperumfang bald zum entscheidenden Duell mit der Tourlegende Eddy Merckx kommt (wobei der zuletzt dermaßen abgenommen hat, dass ich diese Bemerkung nur noch als Pointe, nicht mehr als Realitätsbeschreibung stehen lassen kann). Armstrong dagegen wird nach dem Karriereende vermutlich eine ungeheure Leere verspüren und mit seinem Dasein zumindest zeitweise nicht mehr viel anzufangen wissen. Er muss erst einmal resozialisiert werden. Armstrong ist ein Sieg-Junkie auf Entzug.
    Zu Ullrichs Gunsten (sofern überhaupt nötig) muss angemerkt werden, dass er nie von sich behauptet hat, der Stärkste zu sein, und ihm Auskünfte der Art, er wolle im nächsten Jahr die Frankreichrundfahrt gewinnen, von Journalisten mehr oder weniger abgerungen werden mussten. »Vielleicht können wir mal von dem Thema wegkommen, dass ich das größte Talent bin«, kommentierte er seinen vierten Platz anno 2004. Vielleicht war er ja wirklich all die Jahre mit sich zufrieden.
    Man darf allerdings Ullrich nicht das letzte Wort überlassen, wenn es um Ullrich geht. Armstrong musste zum Extremisten werden, um der Beste zu sein, dem Deutschen genügte sein Talent für den zweiten Platz. Das leichte Grausen, das einen packt, wenn man Extremisten zusieht, hat die Auftrittedes Texaners stets begleitet. Mit dem Fanatismus eines Selbstmordattentäters strampelte er die Berge hinauf, nicht nur während der Rennen, sondern anscheinend täglich.
    Wer sein Talent nicht vergeudet, hat keins.
Diesem von mir nun doch noch eingestreuten
zweiten Merksatz
entgegen steht das Diktum des Schriftstellers Peter Rühmkorf: »Wer sich nicht ruiniert, wird nichts.« Ich schwanke zwischen beiden Paradoxa, wie ich zwischen Ullrich und Armstrong schwanke.
    Ullrich ist ein Held der Potenzialität. Er ist der Jahrhunderttalent-Verschleuderer (bzw. Jahrhundert-Talentverschleuderer). Während Armstrong tatsächlich der Stärkste war, war Ullrich potenziell stärker. Potenziell ist er der Allergrößte gewesen. Die entscheidenden Leute wissen es. Armstrong zum Beispiel schien es immer zu wissen. Die Frühform des Deutschen hat ihn viele Jahre lang vermutlich mehr interessiert als die Abendform seiner jeweiligen Partnerin. Der reale Sieger ist immer kleiner als das Riesentalent. Er hat seine Mittel ausgereizt, während dem Talent noch unglaubliche Reserven zur Verfügung stehen. Wozu es aber Herrn und Frau Jedermann auf die Nase binden, dass man eigentlich der Beste ist? Wozu sich die schönsten Jahre des Lebens Tag für Tag ohne Pause quälen, wenn doch alles klar ist? Wozu auf alle Genüsse verzichten, wenn auch so genügend Geld auf dem Konto ist und genügend Pokale im Regal stehen?
    Prost, Jan!

    Nachtrag zur ersten Auflage: Als dieser Text in den Druck ging, ahnte ich naturgemäß noch nichts von Ullrichs mehr als mutmaßlichem Eigenblutdoping anno 2006. Dennoch meine ich nichts korrigieren zu müssen, da es nach meiner Überzeugung den völlig sauberen Profifahrer nicht gibt und nicht geben kann (siehe S. 19) und die Abstände unter ihnen also irgendwie korrekt sind. Interessanterweise hat sich ja noch nie ein Fahrer beschwert, von den überführten Dopern betrogen worden zu sein.

Letzte offene Fragen
    Am Ende dieser Betrachtung bleiben, wenn ich nichts übersehen habe, drei Fragen übrig.

    Erstens: Wie verhält es sich mit dem schmerzenden Sitzfleisch?
    So: Nach ein paar tausend Kilometern bilden sich überraschenderweise Muskeln am Beckenboden – beziehungsweise sie sind schon da und nur mit den Anforderungen gewachsen –, auf denen sich ganz passabel, wenn auch nicht wirklich komfortabel sitzen lässt. Den Rest erledigt Vaseline. Die ist allerdings wichtig; ein Sandkörnchen kann sonst verheerende Wirkungen haben. Es ist wie das Abkleben der Brustwarzen beim Laufen: Nach der ersten bis aufs Blut
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