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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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speziell auf den Zustand meiner Schenkel anspielend, mit Baudelaire: »Mais l’amour n’est pour moi qu’un matelas d’aiguilles/Fait pour donner à boire à ces cruelles filles!« 2
    Oder aber, derselbe, lieblicher: »Sois sage, ô ma doleur, et tiens-toi plus tranquille:/Tu réclamais le soir; il descend; le voici:/Une atmosphère obscure enveloppe la ville,/Aux uns portant la paix, aux autres le souci.« 3
    Ich sagte allerdings bloß: »Vous permettez que je prends place à côté de chez vous?«
    Sie musterte mich aus unglaublich türkisfarbenen Augen in aller Gemütsruhe und nickte.
    »Sie können Deutsch zu mir sprechen«, sagte sie, »Sie sind doch Deutscher, oder?«
    Ich bejahte erstaunt und fragte, wie sie darauf komme.
    »Sie sehen so aus. Außerdem fahren Sie ein deutsches Fabrikat.«
    Sie sprach mit jenem hinreißenden Akzent, wie man ihn gemeinhin und mit einem gewissen empirischen Recht deutschsprechenden Franzosen zuschreibt, nur etwas weniger vordergründig.
    Ich nahm verdattert und deshalb stumm Platz.
    »Mögen Sie ein paar von den Schnecken? Etwas Rotwein? Es ist ein Côtes du Roussillon, ein
kleiner Sauser
, wie Mijnheer Peeperkorn im Roman Ihres Landsmannes Thomas Mann sagt, aber genau richtig nach der Hitze des Tages.«
    Während sie mir den Wein in ein aus irgendwelchen Gründen bereitstehendes zweites Glas goss, hielt ich schüchtern Umschau nach der versteckten Kamera.
    Es gäbe, fuhr sie fort, hier ein ausgezeichnetes Civet de sanglier, ein Wildschweingericht, das sie sich bestellt habe – ob ich mich anschließen wolle.
    Na und ob ich das wolle, erwiderte ich. Sie sei wohl eine professionelle Rennfahrerin, die hier trainiere?
    Um Gottes willen, rief sie lachend, wie ich denn darauf käme?
    Nun, ich wolle mich bei meinen Blutwerten und meinem Körperfettanteil nicht über den grünen Klee loben, aber wie sie mir vorhin davongefahren sei ...
    Nein, sagte sie neuerlich lachend, sie sei lediglich am Fuße der Pyrenäen aufgewachsen, und sie fahre jeden Sommer viele hundert Kilometer in den Bergen, schon von klein auf an, das sei alles. Noch heute, wo sie in Paris lebe, fahre sie hier regelmäßig, meistens allein, um mal abzuschalten – »oder wie sagt ihr in Deutschland: die Seele baumeln lassen?«
    Aber wo habe sie so gut Deutsch gelernt?
    Sie habe in Deutschland studiert, sagte sie. In Heidelberg.
    Und was?
    Philosophie und Musikwissenschaften.
    Und nun treibe sie Philosophie in Paris?
    Sie promoviere über die Jugendkompositionen Richard Wagners, sagte sie –, aber hier im Süden habe sie ihre gesamte Verwandtschaft, in Perpignan und in der Nähe von Montpellier, alles Weinbauern, sie komme aus einer Winzerfamilie,und ihre Schwester habe übrigens gerade einen Bauernhof in den Cevennen gekauft, wo sie sehr schmackhaften Schinken herstelle.
    »Wir könnten uns ja morgen oder besser übermorgen in Montpellier treffen und zusammen ausgehen«, schlug ich in wonnetrunkener Spontaneität vor.
    »Könnten wir, ja«, sagte sie und schenkte mir einen halb einladenden, halb vernichtenden Blick aus ihren Wahnsinnsaugen. »Wir könnten miteinander ausgehen. Aber erst musst du mich einholen!« ––
    Lieber Leser, diese Geschichte ist natürlich frei erfunden. Eine die Pyrenäen durchquerende Rennradfahrerin mit definierten Brüsten, das ist bereits sehr unwahrscheinlich, aber spätestens beim Philosophie-Studium in Heidelberg hätten Sie stutzig werden müssen. Und erst die Weinbauern-Verwandtschaft! Irgendein Weltgesetz gebietet, dass Vollendung nirgends sei. Aber zum einen hat meine Lektorin gesagt, mein Manuskript sei zu kurz und ich müsse noch etwas Text anstricken, zum anderen wird man doch wohl noch ein wenig träumen dürfen ...

Exkurs:
Potenzialität versus Fanatismus
oder:
Ullrich oder Armstrong?
    Kam der Sport treibende Mensch in dieser Darstellung bislang trotz allem vergleichsweise gut weg, so ist nun zu fragen, wie es sich mit jener Millionenschar verhält, die anderen bei ihren Leibesübungen zusieht. Auch das geschieht bekanntlich unter dem Einsatz von Lebenszeit und bei einem Teil des Publikums zudem angesichts der eigenen Verwahrlosung. Ich habe zum Beispiel Leute mit mehr als 20 Prozent Körperfettanteil sagen hören, Jan Ullrich sei eine Flasche. Als Faustregel gilt: Das Sportpublikum ist bestürzend bis gattungszweifelnährend dumm, man selbst jeweils ausgenommen.
    Wenn es denn wenigstens beim bloßen Zuschauen und womöglich kennerischen Kommentieren, also beim reinen
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