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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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endlich auf dem letzten, wie man sagt, Loch?
    Ich gab mir einen Ruck und ging aus dem Sattel. Oberhalb meiner Knie bissen zwei Krokodile zu. In meinen Ohren rauschte es. Ich beschleunigte.
    Madame tat desgleichen.
    Ich ließ mich zurück auf den Sattel plumpsen. Was sollte das? Was lief hier eigentlich? Ging man so mit einer Person des anderen Geschlechts um? Erlebte ich hier gar einen der wirklichen Triumphe des Gleichstellungsfeminismus? Und: Konnte ein Mann, der von einer schönen Frau am Berg abgehängt wird, dieses Totalversagen sexuell jemals wieder kompensieren?
    Ungefähr eine Stunde später, diesmal am Beginn des Anstiegs zum Col de Portet d’Aspet, wohin ich ihr halb blind nun auch noch gefolgt war, ließ sie mich näher herankommen. Sie fuhr nur ungefähr zehn Meter vor mir. Was fürwunderschöne Waden dieses Geschöpf besaß! Wie vollendet geformt ihre Kniekehlen waren!
    Für die happige Steigung gleich zu Anfang – dort, wo sich Fabio Casartelli auf umgekehrtem Weg anno ’95 zu Tode gestürzt hatte und heute das Denkmal für ihn steht – ging sie in den Wiegetritt und offerierte meinen Blicken zwei wirklich jede Verausgabung rechtfertigende Pobäckchen, denen ich lechzend und mannhaft mein Keuchen unterdrückend folgte wie ein Hund der Wurst, während mir mein Pulsmesser signalisierte, dass ich in Kürze wohl kollabieren würde.
    Wenn ich umkippe, wird sie mich doch hoffentlich wiederbeleben, dachte ich, Scham, Schmerz und Verzweiflung im Herzen – und trat auf einmal mit dem Mut der letzteren und von diesem Entschluss selbst überrascht, armstrongmäßig in die Eisen. Plötzlich war ich auf gleicher Höhe. Ich hatte sie! Ungefähr den Abstand einer Oblate zwischen uns lassend, klemmte ich ein »Bonjour, Madame« zwischen zwei Atemzüge, wobei es mir haarsträubend schlecht gelang, den Grad meiner Erschöpfung zu verbergen. Andrerseits besaß der rasende Puls den Vorteil, dass ich nicht mehr verlegen werden konnte, weil dafür sozusagen keine Kapazitäten mehr frei waren. Die junge Frau war nämlich aus der Nähe noch schöner als aus der bereits viel versprechenden Distanz; obwohl sie zum Helm eine Sonnenbrille trug und ihr Gesicht mithin zur Hälfte verdeckt war, konnte daran kein Zweifel bestehen. Möglicherweise wäre mir beim Anblick einer derartig schönen Frau unter normalen Umständen, beispielsweise in einem Lokal, ein Schweißtröpfchen auf die Stirn getreten, was jetzt nicht passieren konnte, weil auf meiner Stirn kein Platz mehr war, wie auch der abgelutschte Terminus
atemberaubend
für ihre Beschreibung zwar absolut zutreffend,aber in diesem Fall unangebracht gewesen wäre, denn meinen Atem hatte mir bereits ihr Tempo geraubt, so dass ihr Anblick von mir sozusagen physiologisch unkommentiert blieb. Alles, was ich noch herausbrachte, war ein: »Bonne vitesse, o la la ...«
    »Bonjour, Monsieur«, antwortete sie, während sie mich musterte. Dann setzte sie schnippisch hinzu: »Je peux encore mieux!«
    Und mit einem leicht boshaften Lächeln erhob sie sich wieder aus dem Sattel und stiefelte einfach los, es sah wirklich aus, als wenn sie auf den Pedalen laufen würde. Fassungslos sah ich zu, wie sie mir neuerlich entschwebte.
    Da senkte ich den Kopf wie Jan Ullrich 2001 am Schlussanstieg nach Pla d’Adet hinter dem enteilenden Armstrong und gab die Verfolgung auf.
    Über den restlichen Anstieg, die Abfahrt und den weiteren Weg hat sich im Nachhinein ein Schleier gelegt, ich weiß nicht, warum ich damals weitergefahren bin, wo ich doch eigentlich hätte umkehren müssen, wenn ich vor dem Dunkelwerden noch in mein Hotel gelangen wollte, und so weiß ich auch nicht mehr, wie der kleine Bergort hieß, durch den ich am späten Nachmittag bei tief stehender Sonne fuhr und wo ich
ihr Rad
vor dem Garten einer Gastwirtschaft stehen sah. Mechanisch griff ich in die Bremsen. Tatsächlich, dort saß sie, an einem Holztisch im Garten unter einer Korkeiche als anscheinend einziger Gast, vor sich einen Glaskrug Rotwein, und verspeiste mit gutem Appetit Weinbergschnecken.
    Ich stellte mein Rad neben ihres, reinigte mein Gesicht mit dem Reservetrikot, so gut es ging, und nahm den Helm ab zum Gebet. Dann trat ich einen schweren Gang an. Auf meinen Klickpedalschuhen der mampfenden Schönen entgegenstöckelnd, überlegte ich, ob ich sie vielleicht mit Verlaines »C’est l’extase langoureuse« begrüßen (und eventuell noch das »C’est la fatigue amoureuse« anfügen 1 ) sollte – oder, forscher und
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