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Klausen

Klausen

Titel: Klausen
Autoren: Andreas Maier
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von der italienischen Wirtschaft bloß als ideologische Kampfvokabel gebraucht, es sei eine völlig leere Worthülse gewesen, so wie solche Schüler eben immer in völlig leeren Worthülsen reden. Als Schüler galt Gasser als renitent, und später versuchte er sich eine Zeitlang über seine eigene damalige Renitenz aufzuklären, indem er Bücher wie etwa die gewisserEntwicklungspsychologen las. Er betete dann eine Weile allgemeine Theorien nach (unter anderem die Lebenszyklustheorien von Erikson) und sprach zum Beispiel viel über Allaussagen und darüber, wie der junge Mensch, der seine Sprache noch nicht verstehe, mit solchen Allaussagen ein Allmachtsgefühl entwickle, das dann zur Renitenz führe, da die älteren Leute, die er damit nicht in Ruhe lasse, ja wüßten, daß nichts hinter diesen Aussagen stecke außer einer bloß grammatischen, also formalen, Möglichkeit, nichts tatsächlich Erfahrenes und wirklich Gelebtes – er betete alles das eine Weile nach, dann warf er diese Bücher wieder weg und ekelte sich vor seinen eigenen Theorien, die er plötzlich als eine komplette Verunreinigung seiner selbst ansah. Nach der Schule, die er schon mit siebzehn beendete, ging er fort und studierte, und er erschien jahrelang nicht mehr in Klausen. Er studierte zuerst in Innsbruck und später dann in Berlin. In Berlin verlor er seinen Dialekt fast gänzlich, tatsächlich hörte man, als er zurückkam, kaum mehr eine Färbung bei ihm. Die Journalisten behaupteten, Gasser habe nie viel über seine Zeit in Berlin gesprochen, mehr sei von Sonja Maretsch zu erfahren gewesen, die zeitweise irgendwo in Neukölln bei ihm gewohnt hatte. Gasser soll sich eine Weile im Dunstkreis irgendwelcher linken oder radikal-linken Gruppierungen aufgehalten und an einigen Veranstaltungen, die allesamt von sehr jungen Leuten ausgerichtet worden waren, teilgenommen haben. Er nannte das im nachhinein angeblich immer das Experiment unddrückte alles diesbezügliche sehr mysteriös aus. Bald, so wurde gesagt, ekelte es ihn vor der volkstümlichen Anbiederung dieser Leute oder gewisser Teile dieser Gruppierungen, die immer von der Wichtigkeit des Sozialen, von der gerechten Gesellschaft etcetera sprachen. Gasser sei damals nämlich in seinen Begriffsauflösungen so weit gekommen, daß er sich unter dem Wort gerechte Gesellschaft nicht mehr das geringste habe vorstellen können. Er habe, heißt es, solche Begriffe immer mehr für eine bloße sprachliche Erfindung gehalten. Er soll einmal gesagt haben: Die Politiker suchen die Probleme, gegen die sie kämpfen können, nur aus dem Grund, weil sie Wähler suchen, und der Wähler werde am besten über das Problem, das er habe oder zu haben meine (oder durch den Politiker eingeredet bekomme), angesprochen, das sei alles ein sehr widerlicher Prozeß, der unter den Menschen zu nichts als immer nur zu großer Falschheit geführt habe … Dieses und anderes legten sich die Klausner, quer durch alle Gesellschaftsschichten, über Gasser in ihren Vermutungen zurecht … Gasser studierte zu der Zeit Philosophie, Soziologie und versuchte Chinesisch zu lernen. Er nahm auch für eine Weile Schauspielunterricht. Als er ins Eisacktal zurückkam, suchte er nicht sein Elternhaus auf, sondern nahm sich aus Gründen, die die meisten nicht nachvollziehen konnten, zunächst ein Zimmer in dem kleinen Ort Sankt Leonhard oberhalb Brixens, also fünfzehn Kilometer von Klausen entfernt. Er half in einer Sägerei im benachbarten Karnol, trieb hier undda das Vieh auf die Weide, schleuderte Mist auf die Hänge und lief immer wieder die Wälder in Richtung Plose hoch, von wo er auf Klausen schaute, das sehr klein und völlig still unten im Tal lag. Von der Autobahn war da oben nichts zu hören, dort gab es vielmehr jede Menge Thymian, Kuhschellen und Goldhähnchen. Gasser saß am Straßenrand, und wenn irgendein Offenbacher BMW oder ein Münchner Mercedes oder ein Trupp deutscher Motorradfahrer an ihm vorbeifuhren, blickte er ihnen mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck nach und kaute dabei im Mundwinkel. Einige sahen ihn dort oben so. Hin und wieder besuchte er Auer in Klausen, Auer war auch einmal einige Tage in Sankt Leonhard. Bei seinen Eltern jedoch erschien Gasser überhaupt erst nach Wochen. Er verließ Sankt Leonhard ebenso plötzlich, wie er dort erschienen war, und zog in die Klausner Oberstadt. Die Frage, welcher Tätigkeit er im Eisacktal während dieser Wochen eigentlich nachkam, konnte niemand beantworten. Eine
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