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Kinsey Millhone 06 - Dunkle Geschaefte - H wie Hass

Kinsey Millhone 06 - Dunkle Geschaefte - H wie Hass

Titel: Kinsey Millhone 06 - Dunkle Geschaefte - H wie Hass
Autoren: Sue Grafton
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würde mir so viel oder so wenig erzählen, wie es ihm passte, und zwar dann, wenn es ihm beliebte. Neugier macht ihn nur stur, und Bohren aktiviert bei ihm eine angeborene Reizbarkeit. Lieutenant Dolan ist Ende fünfzig und, nach dem, was ich gehört habe, nicht mehr weit von der Pensionierung entfernt. Er hat eine ziemliche Glatze und hängende Tränensäcke und trägt stets einen verknautschten grauen Anzug. Ein Mensch, den ich bewundere, auch wenn unser Verhältnis über die Jahre nicht immer spannungsfrei war. Er schätzt Privatdetektive nicht besonders. Er hält sie für eine nutzlose Spezies, gerade noch tolerabel, solange sie ihm nicht in die Quere kommen. Als Polizist ist er gescheit, gewissenhaft, unermüdlich und überaus scharfsinnig. In Gegenwart von Zivilisten gibt er sich meist sehr kurz angebunden, aber aus Situationen auf dem Revier, unter Kollegen, habe ich eine Ahnung von der Herzlichkeit und Großzügigkeit, derentwegen seine Untergebenen für ihn durchs Feuer gehen — auch wenn er sich offenbar nicht sonderlich bemüßigt fühlt, diese Qualitäten vor mir zu demonstrieren. An diesem Morgen schien er jedoch einigermaßen freundlich, was immer verdächtig ist.
    »Wer ist der Mann?«, fragte ich schließlich.
    »Keine Ahnung. Wir haben ihn noch nicht identifiziert. Möchten Sie ihn sich mal ansehen?« Er stapfte in Richtung der Leiche davon und bedeutete mir mit einer knappen Kopfbewegung, ihm zu folgen. Mir begann das Herz im Hals zu schlagen, und ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Ein seltsamer Ahnungsschauer erfasste mich. Auf einmal wusste ich, wer der Tote war. Vielleicht war es das vertraute Reifenmuster der Turnschuhsohlen, das Elastikbündchen der knall-pinkfarbenen Jogginghose, der kleine Streifen bloßer, dunkler Haut. Ich nahm den Anblick mit einem merkwürdigen Déjà-vu-Gefühl in mir auf. »Wie ist es passiert?«
    »Er wurde aus nächster Nähe erschossen, vermutlich irgendwann nach Mitternacht. Ein Jogger hat die Leiche um sechs Uhr fünfzehn entdeckt und uns gerufen. Bisher haben wir weder die Waffe noch irgendwelche Zeugen. Seine Brieftasche fehlt, ebenso seine Uhr und seine Schlüssel.«
    Er bückte sich, packte den Rand der Plane, schlug sie zurück und enthüllte einen jungen Schwarzen im Jogginganzug. Als mein Blick das im Profil daliegende Gesicht erfasste, zog ich einen psychischen Stecker, um meine Gefühle von meinen übrigen inneren Prozessen abzukoppeln. »Er heißt Parnell Perkins. Er ist Schadensschätzer bei der California Fidelity, vor etwa drei Monaten eingestellt. Vorher hat er als Vertreter für eine Versicherungsgesellschaft in Los Angeles gearbeitet.« Die Fluktuation bei Schadensschätzern ist beträchtlich und so normal, dass niemand einen Gedanken darauf verschwendet.
    »Hat er Angehörige hier in der Stadt?«
    »Nicht dass ich wüsste. Vera Lipton, die Leiterin der Schadensabteilung, war seine unmittelbare Vorgesetzte. Sie müsste seine Personalakte haben.«
    »Und was hatten Sie mit ihm zu tun?«
    Ich zuckte die Achseln. »Na ja, ich kenne ihn noch nicht lange, aber ich betrachte ihn als guten Freund.« Ein kurzer Schmerz durchzuckte mich, als ich die grammatikalische Zeitform berichtigte. »Er war wirklich ein netter Kerl... gutmütig und tüchtig. Fast schon zu großzügig. Er hat nicht viel über sein Privatleben geredet, aber das tue ich auch nicht. Wir sind ein paar Mal die Woche nach der Arbeit irgendwo einen Schluck trinken gegangen. Und manchmal, wenn wir beide nichts vorhatten, ist dann auch noch ein gemeinsames Essen draus geworden. Ich glaube nicht, dass er Zeit für irgendwelche engeren Beziehungen hatte. Er war ein komischer Typ, im Sinn von lustig, meine ich. Er hat mich immer zum Lachen gebracht.«
    Lieutenant Dolan kritzelte mit. Er stellte mir noch ein paar scheinbar zusammenhanglose Fragen über Parnells Arbeitsbereich, berufliche Vorgeschichte, Hobbys, Freundinnen. Außer ein paar oberflächlichen Beobachtungen konnte ich nicht viel dazu sagen, was mir irgendwie seltsam vorkam, weil mir das Ganze so zusetzte. Ich konnte die Augen nicht von Parnell abwenden. Sein Hinterkopf war rund, das Haar fast bis auf die Kopfhaut geschoren. Die Haut in seinem Nacken sah so weich aus. Seine Augen waren offen, starrten blicklos auf den Asphalt. Was ist Leben, dass es in so kurzer Zeit so ganz und gar erlöschen kann? Es schockierte mich, wie restlos die ganze Lebendigkeit, Wärme und Energie aus ihm gewichen waren, von einem Augenblick auf
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