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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ein Kind bleiben, in einem erwachsenen Körper das Hirn eines Säuglings? Das wird sich alles später herausstellen, und wir haben darauf keinen Einfluß mehr. Hier ist die Grenze des Arztes, die wir auch nie überspringen werden. Das Geheimnis des Gehirns, wenn es psychisch gestört ist, wird immer ein Geheimnis bleiben.
    Lehmmacher stand auf. »Dann gehe ich also, Herr Doktor –«, sagte er unsicher.
    »Ich bringe Sie hinaus.«
    »Und wann kann ich das Kind sehen?«
    »Vielleicht morgen. Wir wollen die akute Krise vorbeigehen lassen.« Wollenreiter blieb stehen. »Halt, Sie können es sofort sehen. Ein Blick durch die Scheibe. Aber erschrecken Sie nicht … vor Verbänden sehen Sie keinen Kopf mehr.«
    »Ich falle bestimmt nicht um, Herr Doktor. Wie oft müßte ich sonst auf dem Boden liegen –«
    Eine Viertelstunde später ging Philipp Lehmmacher still und in sich gekehrt nach Hause. Der Anblick seines durch die Kunst Dr. Julius' geretteten Kindes hatte ihn mehr ergriffen, als er erwartet hatte. Der Rausch aus Wut und Enttäuschung war verflogen, es blieb der graue Alltag, es blieb das Kind mit mehreren künstlichen Adern im Gehirn und einer runden Plastikhirnschale.
    An der Tür der Klinik ›Bethlehem‹ hatte er zu Dr. Wollenreiter gesagt: »Herr Doktor, ich danke Ihnen. Wenn Sie nicht hier wären … Ich glaube, Sie wären in der Lage, mir eine runterzuhauen.«
    Und Wollenreiter hatte genickt und geantwortet: »Mein lieber Lehmmacher … ich war nahe davor!«
    Sie schieden in bester Eintracht.
    Was man befürchtet hatte, wurde Wahrheit: Die Behörden, vor allem das Jugendamt, stellten sich stur und bearbeiteten den ›Fall Maria Ignotus‹ mit der Langsamkeit und per perfiden Gründlichkeit preußischer Beamtentradition.
    Zunächst wurde mitgeteilt, daß das alles ja gar nicht so einfach sei, wie man es in der Klinik ›Bethlehem‹ darstellte. Ein Kind wird ausgesetzt, wird geraubt, wird wiedergebracht … ich bitte Sie, ist eine deutsche Behörde dazu da, Statist in einem Wildwestfilm zu spielen? Zunächst wird es Aufgabe der Kriminalpolizei sein, Nachforschungen darüber anzustellen, wo das Kind die Monate über geblieben war. Wenn es die leiblichen Eltern geraubt hatten, so kam noch hinzu, daß das Jugendamt diese Personen zur Rückzahlung der bisher vom Staat gezahlten Verpflegungs- und Krankenhauskosten aufzufordern hatte. Um diesen wichtigen Verwaltungsakt aber durchzuführen, mußte man erst die Eltern haben, was wiederum Sache der Kriminalpolizei war. Also: Entweder verblieb das Kind in der Klinik – und zwar dieses Mal auf Kosten der Klinik – oder es mußte in ein Waisenhaus überstellt werden. Bis zur endgültigen Klärung aller offenstehenden Fragen. Erst dann konnte eine Adoption bewilligt werden. Eine Ausnahme sei nur möglich, wenn die Adoptiveltern auch die bisherigen Kosten dem Staat erstatten würden.
    »Das ist typisch!« schrie Dr. Wollenreiter, als Professor Karchow den im besten Amtsdeutsch verfaßten Brief vor allen Ärzten vorgelesen hatte. »Wenn es dem Staat um die Pfennige geht, ist der Mensch einen Dreck wert!«
    »Das war schon immer so, Wollenreiter.« Karchow faltete den Brief wieder zusammen und warf ihn auf den Schreibtisch zurück. »Maria Ignotus ist ein Aktenvorgang geworden. Ein in Tusche auf einem blauen Deckel gemaltes Aktenzeichen. Das Schicksal kümmert dabei wenig. Es geht darum, daß bestimmte Paragraphen erfüllt werden. Das erinnert mich an einen Vorfall im Krieg. Zur gleichen Zeit, es war in der berüchtigten Schlammperiode in Rußland, wurde durch einen Partisanenangriff eine ganze Kompanie vernichtet, und zehn Kilometer weiter starben in einem Stall vier Pferde an einer Vergiftung. Die 167 deutschen gefallenen Soldaten wurden ›ausgebucht‹, ihr Sterben im Schlamm zur Kenntnis genommen, aber die Pferde, meine Herren, die lösten einen Aktenkrieg aus. Warum krepierten sie? Genaue Meldung! Rückfrage: Wie kam Gift in das Stroh? Eingehende veterinärmedizinische Gutachten. Erneute Rückfrage: Wer hat die Aufsichtspflicht verletzt? Und so ging es hin und her … vier Wochen lang! In der Zwischenzeit rollte der Gegenangriff der Russen, es fielen in diesen vier Wochen noch mehrere tausend Soldaten … sie waren nicht wichtig! Die vier vergifteten Pferde aber geisterten noch lange im Schriftverkehr herum.« Professor Karchow nickte seinen Ärzten zu. »Es ändert sich nichts, meine Herren. Wir lernen auch nicht, menschlich zu denken, wir bleiben immer Sklaven der
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