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Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)

Titel: Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Autoren: Harald Welzer
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Die Zukunft als Versprechen
    Bei uns zu Hause hatten wir alte Mickymaus-Hefte aus den 1950er Jahren, die ich als Kind wieder und wieder gelesen habe. Nicht nur der großartigen Geschichten aus Entenhausen wegen; im Mittelteil, zwischen den Comics, gab es noch die »MMK-Nachrichten«. Da fand sich zum Beispiel die Serie »Unser Freund – das Atom«. Sie erzählte von der Atomphysik und den Segnungen der friedlichen Nutzung der Kernenergie. »Unser Freund – das Atom« war eine von Heft zu Heft weitererzählte Fortsetzungsgeschichte von Verheißungen; wie man mit Atomenergie zum Beispiel Äcker heizen und ungeheure Ertragssteigerungen erzielen könne, wie man mit atomgetriebenen Raketen das Weltall erschließen und überhaupt alle Fragen der Energieversorgung ein für alle Mal hinter sich lassen könne.
    »Unser Freund – das Atom«, das es übrigens – von Disney übernommen und leicht modifiziert – auch als Serie im deutschen Fernsehen gab, war weniger die Beschreibung einer neuartigen Technologie, als eine Geschichte über die Machbarkeit von Zukunft, einer guten Zukunft. »Es liegt in unserer eigenen Hand«, heißt es in der 27. Folge, »die Schätze des Atoms mit Weisheit zu nutzen. Dann wird die zauberhafte Energie des Atoms bald für die ganze Welt zu wirken beginnen. Sie wird die Gaben der Technik bis in die entferntesten Winkel der Erde tragen. Jeder wird seinen Teil an Energie, Nahrung und Gesundheit erhalten.« [1]  
    Was hier entworfen wurde, war nichts weniger als ein Versprechen auf die Gestaltbarkeit einer Welt, die besser sein würde als die, die man gerade hatte. Und Zukunft war für mich ein Versprechen, das sich unablässig einlöste. In den Autoquartetts gab es Maseratis und Ferraris, die 280 Stundenkilometer erreichten, in den Flugzeugquartetts Düsenjets, die mehrfache Schallgeschwindigkeit flogen. Beides existierte nicht nur als bunte Abbildung; wenn man Glück hatte, sah man tatsächlich einmal so ein unwahrscheinliches Auto, und das hatte dann beinahe etwas Sakrales. Manchmal donnerte ein Starfighter oder eine Phantom über unser Dorf, was ich als gewaltig, aber nie als bedrohlich empfand. Ich beneidete die Piloten, die diese wunderschönen und überirdisch schnellen und lauten Maschinen fliegen konnten, genauso wie die Fahrer der exotischen Boliden.
    Dass man zum Fliegen und Fahren Treibstoff brauchte, war klar. Wir spielten »Öl für uns alle« und bekamen an den Tankstellen Sammelbilder von Oldtimern (bei Shell) oder Münzen mit aufgeprägten Autos und später Raumfahrzeugen (bei Aral), jedes Mal, wenn mein Vater tanken fuhr.

Schönes Spiel: »Öl für uns alle«. (Das Brettspiel war zunächst ein Werbegeschenk von BP, wurde aber ab 1960 wegen seines großen Erfolgs von »Ravensburger« vertrieben.)
    Wenig später las ich »hobby«, gewissermaßen die auf Magazinformat erweiterten »MMK-Nachrichten«, in der Sprache der technischen Beschreibungen natürlich erheblich anspruchsvoller als die »Micky Maus« und eigentlich für Erwachsene gedacht: Berichte über Kameras, Schiffe, Architekturen, Autos, Motorräder – unglaublich vielfältig und doch radikal monothematisch. Es ging immer nur um das eine: das bessere, bequemere, erweiterte, schnellere Leben, das einem der technische Fortschritt eröffnen würde.
    Ihre mentale Durchschlagskraft bezogen diese Berichte, die irgendwo im Zwischenraum zwischen einer gerade vergehenden Gegenwart und einer just begonnenen Zukunft spielten, nicht nur durch die tollen Bilder, mit denen »hobby« illustriert war, sondern wieder vor allem dadurch, dass die Versprechen, die hier gegeben wurden, auch tatsächlich eingelöst wurden.
    Schließlich waren wir die ersten Menschen, die Zeugen einer Mondlandung sein durften. Wir erzählten uns morgens in der Schule aufgeregt und fiebrig von den zittrigen Bildern im Fernsehen, die wir nachts zuvor gesehen hatten. Die Zukunft, dafür stand der erste Mensch ja leibhaftig auf dem Mond, fand tatsächlich statt, und wenn die Apollo-Mission möglich war, dann war wirklich alles möglich.

20. Juli 1969. »Buzz« Aldrin auf dem Mond. Ich war zehn und dabei.
    Noch heute kann ich mich gut erinnern, dass Zukunft, technische Zukunft, die Eroberung höchster Höhen und tiefster Tiefen, etwas ungeheuer Aufregendes hatte, und das Tollste bei alldem war, dass man sogar als Schüler irgendwie Teil davon sein konnte. Apollo, das war nichts Vorgesetztes, Gelerntes, Anonymes und Fernes, sondern eine Geschichte vom
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