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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation
Autoren: Heinz G. Konsalik
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als wachhabender Arzt getan, Wollenreiter? Sie müssen alles hören! Alles! Wenn im Keller ein Floh furzt, müssen Sie ihm entblähende Mittel verabreichen!« Man kannte das. Professor Karchow hatte schon ganz andere Tiraden losgelassen, um lächerlicher Kleinigkeiten willen. Und nun ein ausgesetztes Kind. Amtlich: Findelkind! Es ist zum Kotzen!
    Die Decke fiel auseinander. Darunter kam ein in rosa Wolltüchern eingewickeltes Kind zum Vorschein, dick verpackt, warm und geschützt. Das winzige, runde Gesichtchen war rosig und verzerrte sich jetzt etwas im Weinen. Es riß das Mündchen auf und schloß es wieder und verursachte schmatzende Laute.
    »Es hat Hunger!« rief Schwester Angela. »Ich hole sofort von der Milchstation –«
    »Halt!« Dr. Wollenreiter hob die Hand. »Nichts holen wir! Erst stellen wir fest, was mit dem Kind los ist.«
    »Ein Mädchen –«, sagte Bramcke verträumt. Der Arzt schielte zu dem Nachtwächter.
    »Nun heulen Sie nicht vor Rührung, Bramcke. Das hier ist eine Riesensauerei! Das Kind ist nach meiner Schätzung vier Tage alt. Und eine herzlose Mutter legte es einfach vor unsere Tür –«
    »Das ist ja auch der beste Ort –«
    »So kann man's auch sehen!« Dr. Wollenreiter wickelte das Kind weiter aus. Er warf die Windel in einen neben ihm stehenden Eimer und betastete den winzigen, rosigen Körper vom Kopf bis zu den Zehen. Dann drehte er das Kind auf die Bauchlage und fühlte es weiter ab. Nach der Palpation des Kopfes deckte Dr. Wollenreiter den kleinen, zappelnden Körper wieder zu. »Gesund!« sagte er laut. »Ein knallgesundes Mädchen! Hautfarbe gerötet und von mattem Glanz, Turgor normal, Unterhautfettpolster gut, Muskeltonus normal …«
    »Daß die Ärzte nie deutsch sprechen können –«, brummte Bramcke. »Was ist'n nun?«
    »Das Kind ist nach erster Untersuchung okay. Ob es innere Schäden hat, müssen wir noch sehen.« Dr. Wollenreiter sah auf die elektrische Uhr an der gekachelten Wand des Untersuchungszimmers. »Schwester Angela, holen Sie mal den Ober aus dem Bett!« sagte er mit sichtlicher Schadenfreude.
    »Jetzt? Um diese Zeit?«
    »Ein ausgesetztes Kind vor unserer Klinik ist es wert, daß sich der Herr Oberarzt Julius selbst mit ihm beschäftigt. Und die Polizei rufen Sie auch an, Schwester.«
    »Ohne den Chef zu fragen?«
    »Auch der Professor kann ein Findelkind nicht leugnen. Sagen Sie mal, hat der Chef nicht einen Freund? Einen Staatsanwalt? Der war doch öfter hier.«
    »Ich weiß es nicht. Die Schwester Oberin –«
    »Los! Los! Alarmieren Sie alles, was nötig ist!« Dr. Wollenreiter sah auf Bramcke, der mit dem Zeigefinger vor den großen, blauen Augen des Kindes hin und her wedelte. »Haben Sie Kinder, Bramcke?«
    »Ja. Vier Stück. Alle erwachsen.«
    »Daher! Sie sollten wissen, als alter Vater, daß Säuglinge von vier Tagen noch keine figürlichen Wahrnehmungen haben. Ihr wippender Zeigefinger erzeugt nur einen Luftstrom, weiter nichts.«
    Beleidigt legte Bramcke die Hände auf den Rücken und richtete sich auf. »Euch Ärzten kann man auch gar nichts richtig machen. Was passiert nun mit dem Kind?«
    »Es wird Gegenstand behördlicher Betriebsamkeit werden. Presse, Rundfunk und Fernsehen werden die Bevölkerung aufrufen: Wer hat gesehen, daß eine schwangere Frau plötzlich nicht mehr schwanger ist, aber auch kein Kind herumfährt? Wer hat gesehen, gehört, gerochen …? Eine Welle von Klatsch wird über die Polizei hereinbrechen, aber die richtige Mutter zu finden, ist ein Problem. Im übrigen bleibt das Kind bei uns, bis es so kräftig ist, daß es in ein Waisenhaus überstellt werden kann.«
    »In ein Waisenhaus?« rief Bramcke entsetzt.
    »Wohin denn sonst? Wir sind eine Klinik für kranke Kinder. Wenn sich rumspricht, daß in ›Bethlehem‹ Findelkinder hochgepäppelt werden, können wir eine Annahmestelle für ausgesetzte Säuglinge einrichten.«
    Nachtwächter Bramcke wandte sich ab und ging aus dem Zimmer. Er war beleidigt. Herzlos, diese Ärzte, sagte er sich. Seit zehn Jahren bin ich Nachtwächter in der Klinik, ich habe eine halbe Kompanie junger Ärzte durch die Schule Professor Karchows gehen sehen, und immer war's das gleiche: Sarkasmus, Unpersönlichkeit, Patienten sind Zimmernummern und Fälle, es ist, als ob man kein Seelenleben mehr hat, wenn man den weißen Kittel überzieht. Aber vielleicht muß das so sein. Wo käme man als Arzt hin, wenn man jeden toten Patienten beweint wie das eigene Kind –.
    Aber hier handelt es sich um
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