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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation
Autoren: Heinz G. Konsalik
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durchgemacht. Er hatte sein Diplom bekommen, bei Erster Hilfe eingreifen zu dürfen. Nun bewies er, was er gelernt hatte. Vier Stunden lang saß er neben Julia, trocknete ihr den Schweiß von der Stirn, hielt ihre Hand fest, wenn die Wehen den Körper durchzuckten, und zog sie auch nicht weg, als sich ihre Fingernägel tief in sein Fleisch gruben und Blut über seine Finger rann, als die Preßwehen begannen und der Kopf des Kindes sichtbar wurde.
    Dann ging alles schnell. Er nabelte ab, wie er es beim Roten Kreuz gelernt hatte: Abbinden einer offenliegenden Ader. Er drückte auf Anraten Julias, die sich vorher ein Buch mit guten Ratschlägen für werdende Mütter gekauft hatte, so lange den Leib, bis sich die Plazenta abstieß, wusch das Kind, wusch Julia, gab ihr Sprudelwasser zu trinken, wickelte das Kind in angewärmte Windeln und Tücher und setzte sich dann schweißgebadet und mit zitternden Knien neben Julia aufs Bett. Sie tastete nach seinen Händen, drückte sie und nickte ihm schwach zu.
    »Ich danke dir, Franz …«, sagte sie kaum hörbar. »Nun haben wir es überstanden.«
    Dann schlief sie ein, und Franz saß neben ihrem Bett auf dem Stuhl, wagte sich nicht zu rühren und lauschte auf das greinende und später auch schlafende Kind, faltete die Hände zwischen den Knien und starrte ins Leere.
    Was nun, dachte er. Wie soll es nun weitergehen?
    Das Kind ist da! Ein heimliches Kind.
    Was soll mit dem Kind geschehen?
    Niemand weiß, was in den nächsten Tagen gesprochen wurde. Niemand weiß, wie zwei junge Menschen mit der ganzen Kraft ihrer Seelen gegen die Angst rangen, gegen das widerwärtige Leben, gegen den Gedanken, das Kind wegzugeben.
    Vier Tage nach der Geburt des Kindes rief das Krankenhaus an, in dem Ernst Bergmann lag. Der Zustand hatte sich soweit gebessert, daß die Weiterpflege zu Hause stattfinden konnte. Man brauchte Betten, und wer halbwegs aus der Krisis heraus war, wurde aus der Matratze gekippt. Man kann dem Krankenhaus da keinen Vorwurf machen. Im deutschen Wirtschaftswunderland fehlen 30.000 Krankenbetten und 35.000 Schwestern. Auch wenn die Schaufenster überquellen vom Warenangebot und der deutsche Steuerzahler der fleißigste Geldgeber ist, bleibt Deutschland ein Entwicklungsland. Man will es nur nicht wissen.
    Diese Rückkehr Ernst Bergmanns aus dem Krankenhaus war entscheidend. Die Angst schlug über Julia und Franz zusammen.
    In der Nacht, gegen 4 Uhr morgens, legten sie ihr Kind, warm eingewickelt in Moltontüchern und einer Decke, vor den Eingang der Kinderklinik ›Bethlehem‹. Nur mit Gewalt konnte Franz nachher Julia von dem kleinen Bündel wegziehen. Er schleifte sie in seinen kleinen Wagen, der zwei Straßen weiter parkte, drückte sie auf den Sitz und fuhr schnell ab.
    Um zehn Uhr kam Ernst Bergmann mit dem Krankenwagen nach Hause. »Endlich!« sagte er und streichelte seiner Tochter das blasse Gesicht. »Wie bleich du aussiehst. Hast du dir solche Sorgen um mich gemacht? Mein Kleines … nun ist Schluß damit! Du siehst, es ist alles gutgegangen –«
    »Ja, Vater, es ist alles gutgegangen –«, sagte Julia. Dann wandte sie sich plötzlich um und weinte haltlos.
    Ernst Bergmann lächelte glücklich und nickte den beiden Krankenträgern zu, die ihn ins Bett hoben.
    »Habe ich nicht eine gute, brave Tochter?« fragte er leise. Man sah ihm an, daß er stolz war, ein solch geliebter Vater zu sein.
    Eine Klinik ist ein kleines Staatswesen für sich. Es gibt dort Gerechte und Ungerechte, Kluge und Dumme, Schweiger und Schwätzer, Arbeitende und Faulenzende, Gütige und Gehässige. Vor allem aber, wie in einer Kleinstadt, blüht der Klatsch. Auch eine Kinderklinik macht da keine Ausnahme. Und auch in ›Bethlehem‹ war es so.
    Da war die altbekannte Geschichte von Oberarzt Dr. Julius und Stationsärztin Renate Vosshardt. Ihre Liebe war genehmigt, von der Oberschwester bis zur Putzhilfe, und das will schon etwas heißen. Dr. Julius war Witwer, seit zwei Jahren. Seine Frau starb an einem Hirntumor. Ein tragischer, schleichender Tod, der Dr. Julius das Mitleid der Klinik einbrachte, zumal er sehr am Tode seiner Frau litt und erst nach einem Jahr wieder ein Lächeln zeigte. Nichts geht einer Frau mehr in die Seele als ein unglücklicher Mann, und so gönnte man Dr. Julius das Glück, in seiner Kollegin Vosshardt wieder einen Lebenszweck gefunden zu haben.
    Anders war das mit dem Volontärarzt Dr. Sandru Petschawar. Er war Inder, entstammte der vornehmen Brahmanenkaste, hatte in
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