Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
Vom Netzwerk:
ersten Schultags mit Wolfgang sprechen. In seiner Einsamkeit ist er sonderlich geworden im Umgang mit Menschen. Wenn er mich zärtlich begrüßen will, packt er mich so grob an, dass es mir weh tut. Als würde mir ein Bär mit der Pranke auf die Schulter schlagen. Aber ich bin ihm nicht böse. Und weil ich ihn mag, nenne ich ihn Onxganx. Obwohl er um vieles älter ist als Mama und sie ihn regelmäßig abweist, hört er nicht auf, sie heftig zu lieben. Onxganx hat reich geerbt, er lebt inmitten von Antiquitäten.
    Lang, hager und gebückt, wartet er schon in der Wohnungstür, wenn wir die Treppe hochstapfen. Er hält den Bund der Schlafanzughose mit einer Hand zusammen, damit sie ihm nicht von den Hüftknochen rutscht. Die Hose ist viel zu kurz. Auf seinen bleichen Beinen ringeln sich dicke blaue Adern. Seine Füße stecken in Pantoffeln. Die andere Hand umklammert den Silberknauf eines Stocks. Ein gebogener Vogelschnabel und ein zorniges Auge schauen zwischen knochigen Fingern hervor. Als er uns erkennt, lacht er übers ganze Gesicht: »Wie schön, dass ihr kommt!«
    Onxganx bekommt gerne von uns Besuch. Die Freude darüber lässt ihn noch ein Stück größer werden, und alles Leid und seine körperlichen Gebrechen scheinen vergessen. Er humpelt durch den Flur, und wir folgen ihm hinein in seine Welt. Ein strenger Geruch nach Urin und verdorbenem Essen lauert im Innern, nimmt mir den Atem. Ich halte mir die Nase zu, beeile mich, an den überquellenden Mülltüten vorbeizukommen. Der Flur öffnet sich in einen saalartigenRaum. Onxganx thront bereits wieder kerzengerade im Bett, mehrere Kissen in den Rücken gestopft, und schaut uns erwartungsvoll an. Das Bett hat er vom Schreiner mit Regalen umstellen lassen, die bis an die Decke reichen und überquellen von Büchern. Hier haust er Tag und Nacht, von hier aus regiert er seine Welt, Plattenspieler und Telefon in Reichweite. Nächtelang berauscht er sich an Opernmusik von knisternden Schellackplatten. Oder er führt nicht enden wollende Telefongespräche mit den wenigen ihm vertrauten Menschen. Er zwingt sie, mit ihm zu reden, ist neugierig, fragt sie aus. Dabei taucht er ein in ihren Alltag, saugt ein Leben in sich auf, das er nicht hat.
    Ich habe mich an den Geruch gewöhnt, hole wieder etwas tiefer Luft. Der Raum ist vollgestopft mit Möbeln: Schränke, Sessel und Tische in verschiedenen Größen. Türme aus Büchern, Schallplatten und Zeitungen wachsen aus dem Boden. Eine Mauer, die ihn schützend umgibt. Schwere Lüster mit blind gewordenen Glastropfen hängen von der Decke. Die Gemälde stehen alle am Boden. Niemand hängt sie für ihn auf. Dinge wie Haushalt und Sauberkeit sind ihm unwichtig. Er lebt von menschlicher Zuwendung, von Besuchen, einem Brief, von langen Gesprächen.
    Meine Mutter schleift einen Sessel an Onxganx’ Bett, und sofort fangen beide an zu flüstern. Es klingt wichtig. Sie dehnen die Sätze an falschen Stellen, ziehen sie an anderen zusammen, betonen die Wörter komisch. Wahrscheinlich, damit ich nicht mitbekomme, wovon sie sprechen. Weil ich neugierig bin, kann ich trotzdem einzelne Fetzen verstehen: Spitzenkleid, Schneiderin, Schultüte höre ich, dann wird mir das Lauschen zu anstrengend, und ich widme meine Aufmerksamkeit den Büchern. Onxganx hat mir erlaubt, anzuschauen, was ich möchte. Mit beiden Händen zerre ich einen Kunstband mit goldenen Buchstaben auf dem Rücken aus dem Regal. Er ist riesig und schwer und reißt mich fast zu Boden. Ich schaue in die Lücke im Regal und entdecke hinter der vorderen Reihe noch mehr Bücher. Sie stehen zweireihig in einem dicken Teppich aus Staub. Wäre ich winzig klein wie Däumling, würde ich an den Pfosten hochklettern und zwischen all den Büchern im Staub hin und her waten. Mit einem Sack voller Essen und Trinken würde ich dort einige Tage bleiben und alles erforschen. Zum Schlafen würde ich mir ein gemütliches Eckchen suchen, es mit Staubflusen polstern und mich in den Spalt zwischen zwei Büchern kuscheln. Mamas Stimme zerschneidet meine Gedanken. Wir müssen endlich nach Hause! Onxganx sackt in sich zusammen, ich umarme ihn flüchtig. Als ich mich an der Tür noch einmal umdrehe, sehe ich seine traurigen Augen. Ich beeile mich, springe die Stufen hinunter. Meine Mutter wartet schon auf der Straße. Es ist dunkel geworden, und sie läuft plötzlich sehr schnell. Macht sie einen Schritt, muss ich zwei machen, um ihr zu folgen.
    Als wir in die Wohnung kommen, ist dort der Teufel los.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher