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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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herrschaftlich dort. Noch nie habe ich so hohe Räume gesehen. Die Decken zieren Blumengirlanden, Vögel und Trauben. Die Fenster sind schmal und reichen fast bis nach oben. Ich zähle sechs Sprossen an jedem Flügel. Die dicken Vorhänge sind immer nur halb aufgezogen. Sie sind zu lang geraten, finde ich, denn sie schleifen am Boden. Die schweren Möbel stehen herum wie versteinerte Tiere. Sie machen mir Angst. Aber ich bin fasziniert von den vielen Sofas. An fast jeder Wand stehen sie, selbst in der Mitte der Zimmer. Frimettas Eltern führen tagsüber ein Geschäft in Münchens Innenstadt, und so wird die gesamte Wohnung von uns bespielt. Wir errichten Beduinenzelte aus Decken, wickeln buntbedruckte Tücher in mehreren Schichten um unsere Körper, verhüllen Haare und Gesicht mit Seidenschals. Wir sind Prinzessinnen aus dem Orient und feiern ein rauschendes Hochzeitsfest mit Wüstenprinzen. Und wenn unsere Männer gegen Feinde kämpfen, müssen wir mit unseren Kindern auf Kamelen durch die Sahara fliehen. Vor bösen Mächten, die uns rauben und unsere Babys töten wollen. Oder wir schließen die Fensterläden und machen alle Lichter aus. Dann fassen wir uns anden Händen, bewegen uns langsam und vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, lautlos durch das Schwarz.
    Nur ein Ort in der Wohnung ist uns strengstens verboten: Im Wohnzimmer steht ein mächtiger Schrank. Seine Breite nimmt die ganze Wand ein. Die beiden mit Schnitzereien verzierten Türen stehen meist weit offen. Aber es ist nichts drin. Weder Kleider noch Schuhe noch Hüte. Nicht einmal Fächer oder eine Stange. Er ist vollkommen leer und zeigt seine Rückwand aus rohem Holz. Wahrscheinlich ist er so wertvoll, dass wir nicht in seine Nähe kommen dürfen. Unsichtbare rote Seile sind um ihn gespannt, wie im Museum. So bewege ich mich, wenn überhaupt, sehr ehrfürchtig und mit großem Abstand zum Schrank durch diesen Raum. Manchmal glaube ich ein Murmeln oder Flüstern zu hören, aber ich traue mich nicht, Frimetta danach zu fragen.
    Heute sind wir schon sehr lange in unser Spiel versunken, haben jegliches Zeitgefühl verloren und ganz vergessen, eine Lampe anzumachen. Draußen ist es Abend geworden, aber hier drin in unserer Welt schleicht sich der Tag so unmerklich davon, dass wir noch gut sehen können.
    Dann wird es Zeit für mich, nach Hause zu gehen. Frimetta will mir in der Küche schnell noch etwas von dem Gewürzkuchen einpacken, den ich so gern esse. Ich warte im Flur. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen, ab und zu fahren die Scheinwerfer eines Autos über Boden und Wände. Es riecht plötzlich wie in einer Kirche. Und dann höre ich auch wieder die Stimmen aus dem Schrank! Dieses Mal lauter. Ich spähe in Richtung der Geräusche und sehe, dass die Rückwand des Schrankes einen Spalt weit offen steht. Dahinter liegt offenbar ein weiterer Raum, den man vom Flur aus nicht erreichen kann. Neugierig schiebe ich mich weiter. Hände tauchen auf in hellem Schein, manchmal ein Arm, eine Schulter. Behutsam arrangieren die Hände Gegenstände auf einem Tisch, der sich vor meinen Augen in eine festliche Tafel verwandelt. In der Mitte steht ein Kerzenleuchter. Sieben Kerzen brennen. Ich bin so gefangen von dem Anblick, dass ich meine Freundin nicht bemerke.
    »Du musst sofort gehen!«, sagt Frimetta barsch. Ich zucke zusammen, fühle mich ertappt. Ich schaue sie unsicher an. Ihre Augen funkeln. Sie drückt mir wortlos das Kuchenpäckchen in die Hände und drängt mich zur Tür hinaus.
    Die Bilder aus dem Schrank begleiten mich nach Hause.

I ch finde Mama im Bad. Ihr Gesicht begegnet mir im Spiegel. So habe ich sie noch nie gesehen: Der Mund eine Mohnblüte, die Wangen schimmern porzellanweiß, die Augen sind rauchig umrahmt. Ihr Ausdruck ist anders als sonst, sie genießt es, sich selbst zu betrachten, mich nimmt sie kaum wahr. Wir werden von der Klingel unterbrochen: kurz, forsch, ungeduldig. Der Öffner summt. Am Ende des Flurs erscheint ein Mann mit blondem Haarschopf und strahlendem Lachen. Er rast auf Mama zu, streckt ihr einen Blumenstrauß entgegen, während er unentwegt schwätzt. »Grüß dich, Gisi!«, trällert er. Entsetzt verschwinde ich hinter Mama und beäuge dieses Wesen, das ganz anders ist als wir: so frisch, so fröhlich, hell und laut.
    Mama scheint diesen Mann zu kennen, denn sie begrüßt ihn auch. Sie küssen sich kurz auf den Mund. Ich stehe stocksteif. Sein »Hallo!« erwidere ich nicht, sondern drehe mich weg. Der Mann
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