Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
Vom Netzwerk:
Die Brüder meiner Mutter, zwei große kräftige Kerle, schleifen ihren Vater durch den Flur bis in sein Zimmer zum Bett und drücken ihn grob hinein. Er bleibt nicht liegen, reißt sich los, schleppt sich zurück zur Wohnungstür. Seine Söhne packen ihn erneut, werfen ihn wieder ins Bett. Dieses grausige Schauspiel wiederholt sich so lange, bis Großvater die Kräfte verlassen und er aufgibt.
    Kaum haben sich meine Onkel getrollt, schleiche ich mich auf Zehenspitzen zu ihm. Im Zimmer brennt nur die Nachttischlampe. Hilflos liegt er zwischen Bergen aus Kissen und Decken, als würden sie ihn gleich verschlingen. Es ist kalt hier drin. Langsam wage ich mich ein Stück näher. Großvater sieht zerbrechlich aus. Der magere Körper krümmt sich um ein Kissen, wie um es zu umarmen. Die Augen sind fest geschlossen. Vielleicht will er sie nie mehr aufmachen. Sein Mund formt einen scharfgezeichneten Bogen, als würde er weinen. Seine Haut ist weiß wie Wachs, und Rücken und Arme sind übersät mit Leberflecken. Ich beginne sie zu zählen:große, kleine, dicke, flache. Manche stehen allein, andere gesellen sich zu Gruppen. Bei zwanzig fange ich wieder von vorne an, denn weiter kann ich nicht zählen. Unter dem Bettlaken schaut ein Hosenbund hervor. Mein Großvater schläft immer auf seiner sorgfältig gefalteten Hose. Das erspart das Bügeln, sagt Mama. Aber heute war das sicher nicht geplant. Vorsichtig berühre ich seine Stirn, sie ist nass. Er stöhnt leise, ich schlüpfe hinaus und laufe auf die Terrasse, trete in einen wabernden Teppich aus Tauben. Sie spritzen auseinander wie dreckiges Putzwasser. Aber sofort kommen sie wieder angewackelt. Hass steigt in mir hoch. Ich springe erneut in die zuckende Masse, und als würde ich dazu gezwungen, springe ich immer schneller, immer fester in die glitschige Scheiße, bis ich nichts mehr spüre.

I ch bin so aufgeregt, dass ich nicht mehr schlafen kann. Heute ist mein erster Schultag. Noch bevor es hell wird, schlüpfe ich in das Kleid aus weißer Spitze und binde mir das hellblaue Seidenband um die Taille. Dann laufe ich ins Behandlungszimmer und stelle mich vor den geheimnisvollen Medikamentenschrank. Immer wenn die Luft rein ist, schleiche ich hierher, drücke mein Gesicht gegen die Scheibe. Mich faszinieren die geheimnisvollen Fläschchen und Röhrchen. Es müssen sich gefährliche Substanzen darin verbergen, denn der Schrank ist immer abgeschlossen, und der Schlüssel hängt an Mamas Schlüsselbund. Aber heute interessiert mich nur mein Aussehen. Die Glastüren des Schranks sind mein Spiegel. Ich drehe mich, bis das Kleid und meine hüftlangen Haare fliegen, und finde mich wunderschön. Der Stoff und das Geld für die Schneiderin kommen von Onxganx. Und weil er mich so gerne zur Tochter hätte, füllt er auch meine Schultüte bis oben hin mit Süßigkeiten. Buntstifte sind auch drin.
    Andächtig trage ich dieses Stück Glück in mein erstes Klassenzimmer. Es riecht nach Papier, Kreide, Holz und Tinte. Feuerrote Struppelhaare ragen aus einem Knäuel von plappernden Kindern. Es ist die Lehrerin. Sie sieht lustig aus. Mir fällt der holzgeschnitzte Kasperlkopf aus dem Spielwarenladen ein. Nase und Mund sind groß, die Zähne auch, und sie lacht immerzu.
    Ein Mädchen mit dicken schwarzen Zöpfen sticht aus der Masse heraus. Es sitzt etwas abseits aufrecht auf einem Stuhl und sieht mich an. Das muss Schneewittchen sein! Es hat große, dunkle Augen und blickt so lange zu mir herüber, bis ich es als Aufforderung begreife und mich neben es setze. Das Mädchen heißt Frimetta, und ich schließe es sofort ins Herz.
    Als alle Kinder einen Platz gefunden haben, wünscht sich die Lehrerin von jedem ein Lied oder einen kurzen Vers. Ich strecke den Finger so hoch ich kann und verkünde: »Ich singe Die Forelle von Franz Schubert und spreche das Gedicht Abendlied von Gottfried Keller!« Dann stelle ich mich hin, und mit der Ernsthaftigkeit und dem Stolz einer Sängerin trage ich das Lied von Anfang bis Ende vor. Kaum ist der letzte Ton verklungen, sage ich mit viel Pathos alle Strophen des Gedichts auf. Die Lehrerin lasse ich während meiner Vorstellung keine Sekunde aus den Augen. Später erzählt sie Mama, mit der sie mittlerweile befreundet ist, dass sie sich zum Fenster drehen musste, um nicht zu platzen vor Lachen.
    Ich liebe diese Frau, die Schule, vor allem aber liebe ich Frimetta. Sie wird meine erste Freundin. Das Schönste sind die Nachmittage bei ihr zu Hause. Alles ist so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher