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Gefährliches Geheimnis

Gefährliches Geheimnis

Titel: Gefährliches Geheimnis
Autoren: Anne Perry
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    Im Operationssaal war nichts zu hören außer den tiefen, regelmäßigen Atemzügen der mageren, jungen Frau, die auf dem Tisch lag. Die ungeheuere Rundung ihres Bauches war entblößt.
    Hester stand Kristian Beck gegenüber. Es war die erste Operation an diesem Tag, und bis jetzt war noch kein Blut auf seinem weißen Hemd. Der Schwamm mit Chloroform hatte sein Wunderwerk vollbracht und wurde zur Seite gelegt. Kristian griff nach dem Skalpell und berührte mit der Spitze die Haut der jungen Frau. Weder zuckte sie, noch bewegten sich ihre Augenlider. Er drückte fester, und eine feine rote Linie entstand.
    Hester sah auf und begegnete seinem Blick – dunkel, leuchtend vor Intelligenz. Sie wussten um das Risiko, auch mit Anästhesie, und es bestand die Gefahr, dass sie wenig tun konnten, um zu helfen. Bei einem derartig großen Schnitt überlebten die Patienten oft nicht, aber ohne Operation würde sie auf jeden Fall sterben.
    Kristian senkte den Blick und fuhr mit dem Schnitt fort. Blut trat aus der Wunde aus, und Hester tupfte es weg. Mary Ellsworth lag – bis auf ihre Atemzüge – reglos da, das Gesicht wachsweiß und eingesunken, dunkle Schatten um die Augen. Ihre Handgelenke waren so dünn, dass die Knochen fast durch die Haut stießen. Hester war vom Krankenzimmer über den Flur neben Mary hergegangen, hatte sie gestützt und versucht, ihr die Angst zu nehmen, die sie jedes Mal, wenn sie in den letzten zwölf Monaten im Krankenhaus gewesen war, mehr quälte. Der Schmerz schien ihren Geist ebenso zu beherrschen wie ihren Körper.
    Kristian hatte gegen den Wunsch von Fermin Thorpe,
    dem Vorstand des Verwaltungsrats des Krankenhauses, auf einer Operation bestanden. Thorpe war ein vorsichtiger Mann, der die Autorität liebte, aber nicht den Mut hatte, einen Schritt außerhalb der bekannten Ordnung der Dinge zu tun, die er verteidigen konnte, wenn jemand Mächtiges ihn in Frage stellte. Er liebte Vorschriften. Wenn man sich daran hielt, konnte man alles rechtfertigen.
    Kristian stammte aus Böhmen, und nach Thorpes Ansicht gehörte er mit seiner Phantasie, seinem – wenn auch nur leichten – fremden Akzent und seiner Missachtung der Art und Weise, wie die Dinge erledigt werden sollten, nicht in das Hampstead-Krankenhaus in London. Er sollte nicht den guten Ruf des Krankenhauses aufs Spiel setzen, indem er eine Operation durchführte, deren Chance auf Erfolg so gering war. Aber Kristian hatte auf alles eine Antwort, einen Einwand. Und Lady Callandra hatte sich natürlich wie immer auf seine Seite gestellt!
    Kristian lächelte bei der Erinnerung daran, ohne Hester anzusehen. Er blickte auf seine Hände, die die Wunde, die er der Frau zugefügt hatte, untersuchten und nach der Ursache für die Verstopfung, die Auszehrung, die Übelkeit und die riesige Schwellung forschten.
    Hester wischte Blut ab und warf einen Blick auf das Gesicht der Frau. Es war immer noch vollkommen ruhig. Hester hätte alles in der Welt gegeben, wenn sie vor fünf Jahren auf dem Schlachtfeld auf der Krim oder auch vor fast drei Monaten in Manassas in Amerika Chloroform gehabt hätte.
    »Ah!« Kristian stieß ein zufriedenes Brummen aus und richtete sich auf, wobei er vorsichtig etwas aus der Bauchhöhle holte, was wie eine dunkle, halb poröse Luffa aussah, mit der man sich den Rücken oder einen Kochtopf schrubbte. Sie hatte in etwa die Größe einer kräftigen
    Hauskatze.
    Hester war zu verblüfft, um ein Wort herauszubringen. Sie starrte erst das Ding, dann Kristian an.
    »Trichobezoar«, sagte er leise. Dann begegnete er ihrem ungläubigen Blick. »Haar«, erklärte er. »Menschen mit leicht erregbaren Störungen, nervösen Ängsten und Depressionen leiden manchmal unter dem Zwang, sich die Haare auszureißen und zu essen. Es steht nicht in ihrer Macht, ohne fremde Hilfe damit aufzuhören.«
    Hester starrte auf die steife, abstoßende Masse in der Schüssel, und bei dem Gedanken, dass jemand so etwas in seinem Körper hatte, spürte sie, wie ihre Kehle sich zusammenzog und ihr Magen rebellierte.
    »Tupfer«, verlangte Kristian. »Nadel.«
    »Oh!« Sie wollte seinem Befehl eben Folge leisten, als die Tür aufging und Callandra hereinkam und die Tür leise hinter sich schloss. Ihr erster Blick galt Kristian, mit einer Sanftheit in den Augen, die sie verbarg, als er sich zu ihr umdrehte. Er zeigte auf die Schüssel und lächelte.
    Callandra sah überrascht aus, dann wandte sie sich an
    Hester.
    »Was ist das?«
    »Haar«, antwortete Hester
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