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Gefährliches Geheimnis

Gefährliches Geheimnis

Titel: Gefährliches Geheimnis
Autoren: Anne Perry
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geht. Selbst wenn ich dir nicht helfen kann, würde ich mich doch freuen, wenn du so viel Zutrauen zu mir hättest, dass du dich mir anvertraust.«
    Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die
    Knie. Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, sah er ihr direkt ins Gesicht. Seine blauen Augen waren voller Angst und abgrundtiefer Bestürzung.
    Sie wartete.
    »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.« Seine Stimme war leise, aber rau vor Wut. »Es geht um Imogen. Sie … hat sich verändert …« Er unterbrach sich, eine Welle des Jammers schlug über ihm zusammen.
    Hester dachte an ihre charmante, reizende Schwägerin, die stets so selbstsicher wirkte und sich in der Gesellschaft und mit sich selbst sehr viel wohler zu fühlen schien als Hester. »Wie hat sie sich verändert?«, fragte sie freundlich.
    Er schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Ich nehme an, im Laufe der Zeit. Ich … ich habe es nicht gemerkt.« Er richtete seinen Blick unvermittelt auf seine Hände, die er so fest miteinander verschränkte, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Es kommt mir vor wie viele Wochen.«
    Hester zwang sich zur Geduld. Er war offensichtlich dermaßen bekümmert, dass es unfreundlich und in praktischer Hinsicht sinnlos war, ihn zu zwingen, sich zu konzentrieren. »Inwiefern hat sie sich verändert?«, fragte sie und versuchte, möglichst unbeteiligt zu klingen. Es war sehr ungewöhnlich, zu erleben, dass ihr ruhiger, ziemlich arroganter Bruder die Kontrolle über eine Situation verlor, die bis dahin eine reine Familienangelegenheit war. Hester fürchtete, dass die Sache Dimensionen hatte, die über alles hinausgingen, was sie vermuten konnte.
    »Sie ist … unzuverlässig«, sagte er und suchte nach den richtigen Worten. »Natürlich hat jeder Stimmungs- schwankungen, das weiß ich – Tage, an denen man fröhlicher ist als an anderen, Ängste, einfach … einfach unangenehme Dinge, die einen verletzen –, aber Imogen
    ist entweder so glücklich, dass sie ganz aufgeregt ist, nicht still sitzen kann …« Sein Gesicht war zerfurcht vor Bestürzung, weil er etwas zu begreifen versuchte, was er nicht begreifen konnte. »Sie ist entweder freudig erregt oder verzweifelt. Manchmal sieht sie aus, als wäre sie außer sich vor Sorgen, und einen Tag oder nur ein paar Stunden später ist sie voller Energie, dann strahlen ihre Augen, ihr Gesicht ist gerötet, und sie lacht grundlos. Und
    … das klingt absurd … aber ich schwöre, dass sie kleine
    Handlungen wiederholt … wie Rituale.«
    Hester war überrascht. »Was, zum Beispiel?«
    Er sah verlegen aus, fast entschuldigend. »Zuerst macht sie den mittleren Knopf ihrer Jacke zu, dann die restlichen von unten nach oben und dann von oben nach unten. Ich habe beobachtet, dass sie die Knöpfe zählt, um sicherzugehen. Und« – er atmete tief durch – »sie trägt ein Paar Handschuhe und … dazu einen überzähligen, der nicht passt.«
    Das ergab anscheinend keinen Sinn. Hester fragte sich, ob er wirklich Recht haben konnte oder sich das in seiner Ängstlichkeit nur einbildete. »Hat sie gesagt, warum?«
    »Nein. Ich habe sie wegen der Handschuhe gefragt, aber sie hat mir keine Antwort gegeben und einfach über etwas anderes geredet.«
    Hester sah Charles an, wie er vor ihr saß. Er war groß und schlank und im Moment vielleicht ein wenig zu dünn. Sein helles Haar lichtete sich, aber nicht sehr stark. Seine Züge waren regelmäßig; er wäre gut aussehend zu nennen gewesen, hätte sein Gesicht mehr Überzeugung ausgedrückt, mehr Leidenschaft und Humor. Er hatte den Selbstmord seines Vaters nicht verkraftet und war von einem Kummer gezeichnet, den er nicht auszudrücken vermochte, und einer Schmach, die er stillschweigend
    trug. Er hätte es als Verrat empfunden, sich über einen so persönlichen Kummer zu äußern. Hester hatte keine Ahnung, ob er mit Imogen darüber gesprochen hatte. Vielleicht hatte er versucht, sie davor zu schützen, oder sich eingebildet, es würde ihr helfen, wenn sie ihn als unverletzlich sehen konnte, als jemanden, der immer alles unter Kontrolle hatte. Vielleicht hatte er Recht!
    Andererseits wünschte sie sich vielleicht leiden- schaftlich, er würde seinen Schmerz mit ihr teilen, hätte gerne erlebt, dass er sich ihr anvertraute, damit sie alles mit ihrer Freundlichkeit und Stärke mit ihm tragen konnte. Vielleicht fühlte sie sich ausgeschlossen? Hester war sich ganz sicher, dass es ihr selbst so ergangen
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