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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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zählen die Menschen, die da unten über den Kies laufen. Am Kleinhesseloher See warte ich am Ufer, ob aus einem der Seitenarme ein Boot auftaucht, lautlos über den See gleitet und dann zwischen den herunterhängenden Ästen der Weiden in einen geheimen Wasserweg entschwindet. Hinter Büschen verborgen, tun sich kleine Räume auf. Dort stehen einsam Statuen aus Stein. Schöne Frauen, junge Männer und Putten. Ich streiche gerne über ihre raue Haut.Die große geschwungene Steinbank auf einer Halbinsel besuchen wir jedes Mal. Mama setzt sich in die eine Ecke, ich in die andere. Wir spielen »Wir kennen uns nicht«. Eine von beiden spricht die andere an, wir kommen ins Gespräch. Irgendwann erzählen wir einander so wüste Geschichten aus unserem Leben, dass wir entscheiden, gemeinsam weiterzugehen. Im Sommer versuche ich Mama zum Karussell zu locken. Nur selten habe ich Erfolg, denn die Fahrt ist ziemlich teuer. Dafür darf ich mir beim Eismann zwei Kugeln aussuchen. Ich nehme immer Torroncino und Zitrone in der Muschelwaffel. Viel schmecke ich nicht, denn ich schlinge das Eis hinunter, als würde ich verhungern. Danach bin ich enttäuscht, weil der Rausch so schnell vorbei ist. Außerdem bekomme ich Kopfweh, wenn ich das Eis so schnell in mich hineinstopfe, aber ich mache es jedes Mal wieder genauso.
    Im Herbst spielen Mama und ich oft ein anderes Spiel: Wir schlurfen Arm in Arm über Wege und Wiesen durch die dicke Blätterschicht und wirbeln sie mit den Füßen auf. Manchmal stinkt es bestialisch. Dann sind wir in Hundescheiße getreten, die sich unter dem Laub versteckt hat. Das ist nicht schlimm, wir kratzen die Schuhe an einem Stein sauber. Finden wir einen besonders hohen Blätterhaufen, springen wir hinein, werfen Arme voller Laub in die Luft und stellen uns in den bunten Regen. Ich mache die Augen zu und stelle mir vor, ich sei das Mädchen aus Sterntaler . Wer am schnellsten die meisten Ladungen schafft, hat gewonnen. Wir jauchzen und lachen und lassen uns irgendwann völlig außer Atem in das weiche Polster fallen wie in Schnee. Ich schaue in den Himmel über den Baumwipfeln und bin glücklich. Nach kurzer Verschnaufpause rappeln wir uns auf, noch schwach vom vielen Lachen. Ich klopfe Erde und Blätter von Mamas Mantel. Dann setzt sie sich auf eine Bank, und ich darf die Zweige aus ihren Haaren zupfen. In solchen Momenten sind wir uns nah.
    Heute ist Mama guter Laune. Als wir am Milchhäusl vorbeikommen, fragt sie mich, ob ich ein Quarkbrot und Buttermilch möchte. Das Milchhäusl ist eine Holzhütte mit einem offenstehenden Fenster, das von der Milchfrau komplett ausgefüllt wird. Ihr Kopf ist nicht zu sehen, sie ist zu groß. Zum Sprechen bückt sie sich, dann sieht man ihr lachendes Milchbrötchengesicht. »Ein Quarkbrot und ein Glas Buttermilch bitte!«, rufe ich und lege das Geld, das Mama mir gegeben hat, auf das Brett. Sie nickt, schaufelt die Münzen in ihre Hand. Sofort verschwindet das Gesicht wieder. Die Frau dreht ihren Körper ins Innere, und ich sehe nur ihren breiten Rücken, der sich hin und her bewegt. Dann erscheinen ein riesiger Busen und Hände, die ein Glas Milch und einen Pappteller in meine Richtung schieben. Darauf liegt eine Scheibe Bauernbrot, dick bestrichen mit schneeweißem duftendem Quark und obendrauf ein grüner Teppich aus Schnittlauchröllchen. Gierig stürze ich mich darauf und verschlinge mit einigen Bissen das halbe Brot. Ich schließe die Augen und spüre den kühlen Quark auf der Oberlippe, an der Nasenspitze, in den Mundwinkeln, am Kinn. Mama schimpft, ich soll mich ein bisschen beherrschen, aber ich kann nicht anders und stopfe auch den Rest in mich hinein. Dabei fällt mir ein, dass Mama und ich einmal vor einem Platzregen ins Milchhäusl flüchten mussten. Viele andere taten das auch, drängten mich kleines Kind immer weiter in die Hütte und quetschten mich an den massigen Körper der Milchfrau. Es war mir nicht unangenehm, sie fühlte sich weich und warm an. Eine kräftige Hand kam von oben und schob mir Quarkbrotschnitten in den Mund. Draußen tobte ein Gewitter, ich war patschnass, aber gerettet und wurde gefüttert. Bis heute sind die Quarkbrote aus dem Milchhäusl die besten meines Lebens.

A uf dem Weg nach Hause laufen wir durch die Agnesstraße. Dort wohnt Wolfgang, ein erfolgloser Verehrer meiner Mutter, allein in einer Eigentumswohnung. Es dämmert schon, aber wir wollen immer noch nicht heim zu Großvater. Mama sagt, sie müsse unbedingt wegen meines
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