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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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mit einem Satz aus dem Bett und drehe den Zimmerschlüssel zweimal um. Auf der anderen Seite der Tür randaliert mein Großvater. Aber er ist nicht allein, er hat einen Freund mitgebracht. Die Stimmen der Männer dröhnen durch die Wand. Sie rülpsen, wiehern, lallen unverständliches Zeug. Anscheinend haben sie Spaß, doch ihre gute Laune kann jeden Moment ins Gegenteil umschlagen. Die Gabel halte ich mit beiden Händen vor mein Gesicht. Seitdem mein Großvater manchmal nachts betrunken mit einem Freund nach Hause kommt, schlafe ich nie ohne diese Waffe. Plötzlich verändern sich die Stimmen, sie klingen böse und hart. Dumpfe Geräusche wie fallende Körper, Stöße gegen Möbel, dann klirren Flaschen. Ich stehe immer noch wie gelähmt am selben Fleck. Eine Tür knallt ins Schloss. Irgendwann höre ich ein Würgen. Dann ist es still. Ich mache mir Sorgen um Großvater. Hoffentlich stirbt er nicht. Aber ich traue mich nicht, nachzusehen. Lieber schlüpfe ich unter Mamas Decke, schmiege mich an ihren Rücken. Ich lausche ihren Atemgeräuschen, versuche, mich dem Heben und Senken ihres Körpers anzupassen. Sie macht im Schlaf eine Bewegung, als wolle sie mich abschütteln. Traurig gehe ich zurück in mein Bett, rolle mich ein wie ein Regenwurm. Ich habe Sehnsucht nach meiner Großmutter. Sie hat mich lieb, das spüre ich. Nach Spaziergängen im Englischen Garten besuchen wir sie manchmal. Ich werde verwöhnt mit Tellern voller Marmeladenbrote und geschälten Orangen, die aussehen wie gelbe Blumen. Bei meiner Großmutter fühle ich mich behütet und tauche sofort ein in meine Spielwelt. Die vielen Schubladen des Bauernschranks dienen mir als Kinderbettchen für die Puppen, die ich mir aus Schals zusammenknote. Damit bin ich stundenlang beschäftigt, bis Mamas Stimme mich zum Gehen ruft. Oder ihr Bruder mich zum Einkaufen mitnimmt. Er heißt Tommy, ist zwanzig Jahre alt und ein angehender Schlagerstar. Ich verehre ihn hemmungslos, auch wenn er mich oft quält. Immer will er den Fahrstuhl benutzen, obwohl die Wohnung im ersten Stock liegt. Kaum haben sich die Türen geschlossen und die Kabine setzt sich in Bewegung, bleibt sie mit einem Ruck auch schon wieder stehen, jedes Mal. Durch die Glastür sehe ich nur graue Mauer. Ich schaue mich um, überall nur glatte geschlossene Wände. Die trübe Birne an der Decke gibt kaum Licht. »Wir kommen hier nie mehr raus!«, jammert mein Onkel. Angst kriecht von meinen Zehen in die Fingerspitzen und bis in den letzten Winkel meines Kopfes. Es wird immer enger im Raum, die Luft ist dick und stickig. Hektisch versuche ich alles, was noch übrig ist, in mich aufzusaugen. Aber je mehr Luft ich in meine Lungen ziehe, desto weniger kann ich atmen. In Todesangst klammere ich mich an die Beine meines Onkels. Der grinst mich an, drückt auf den Knopf, und wir fahren weiter, als sei nie etwas gewesen. Wenn wirden Fahrstuhl verlassen, kleben die schweißnassen Kleider an mir, und ich zittere am ganzen Körper. »Ein Wort zu irgendjemandem, und ich sperre dich das nächste Mal die ganze Nacht ein!«, droht er.
    Ich bin so froh, dass ich jetzt in meinem Bett liege. Müdigkeit breitet sich in mir aus wie warmes Öl, ich schlafe ein.

B abbo lebt immer noch in Wien und will unbedingt ein Engagement am Burgtheater. Aber man gibt ihm keinen Vertrag. Deshalb streitet er mit allen Menschen, schreit, brüllt und tobt. Wir spüren seine Wut in den Briefen, die er an Mama schreibt, täglich! Die Buchstaben sind schwarz und wild und sehen aus, als hätte er sie ins Papier graviert, und mit unzähligen Ausrufezeichen und zentimeterdicken Unterstreichungen ist versehen, was sie unbedingt und auf der Stelle für ihn zu tun habe. »Du musst es schaffen, sonst sterbe ich! Du musst, Du musst, Du musst!« Die Briefe bestehen nur aus Forderungen. Und dass sie mich, das heilige Kindchen, das höchste Gut auf Erden, Millionen Mal von ihm küssen solle. Jedes Mal drehe ich die Blätter um, schließe die Augen, streiche mit den Fingerspitzen über das Papier, um zu spüren, ob sich die Wörter durchgedrückt haben. An manchen Stellen sind Löcher, so tief hat er seinen Zorn hineingegraben.
    Es klingelt. Ich stürme zur Tür, weil ich ein Geschenk von Babbo erwarte. Aber der Postbote drückt mir nur einen Brief in die Hand. Beleidigt verpasse ich der Tür einen Fußtritt, sodass sie laut ins Schloss knallt. Mama schreit erschrocken auf am anderen Ende der Wohnung. Ich trabe zu ihr, halte ihr das Kuvert entgegen.
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