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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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Ahnung, wie viel Geld ich verdient habe. Mama spricht nicht darüber. Aber ich bemerke, dass sie in letzter Zeit bessere Lebensmittel einkauft. Es gibt jetzt oft Obst. Normalerweise geht das nicht. Die Praxis meines Großvaters läuft schlecht, es kommen immer weniger Patienten.
    In dieser Zeit des Wohlstands liegt eines Tages eine braune Papiertüte auf dem Küchentisch. Zuerst schleiche ich umdas Paket und betrachte es nur. Dann hebe ich es hoch, rieche daran. Es riecht nach nichts. Ich bin neugierig und bohre mit dem Finger ein Loch ins Papier. Da rollt mir eine dunkelrote, glänzende Kugel entgegen. Im Gemüseladen habe ich diese Früchte schon gesehen, aber noch nie probiert. Mich überkommt Lust, vielmehr Gier, sie zu schmecken. Ich stecke sie zwischen die Zähne, reiße sie vom Stiel, und da ich es nicht besser weiß, lutsche ich sie erst wie ein Bonbon und schlucke sie dann als Ganzes hinunter. Eine nach der anderen. Die Papiertüte lasse ich verschwinden. Als Mama nach den Kirschen fragt, zucke ich mit den Schultern.
    »Und wo sind die Kerne?«
    »Mitgegessen.« Mama schüttelt den Kopf. Eigenartigerweise bekomme ich weder Bauchschmerzen, noch entzündet sich mein Blinddarm.
    Großvater Felizian ist auch mein Kinderarzt, deshalb werden sämtliche Impfungen von ihm durchgeführt. Schon die Tage davor sind mir verdorben. Der bevorstehende Stich versetzt mich so in Panik, dass mir nichts mehr Spaß macht. Wenn es so weit ist und ich ins Arztzimmer geholt werde, fühle ich mich, als würde ich zu meiner Hinrichtung geführt werden. Ich muss mich nackt ausziehen und mich auf das braune Behandlungsbett legen. Steif wie ein Stock, die Arme an den Körper gepresst, liege ich auf dem Rücken und erwarte zitternd mein Ende. Mein Herz pumpt und hämmert. Ich schiele nach der gläsernen Riesenspritze, die mein Großvater hoch über mir mit völlig ungerührtem Gesicht aufzieht, und friere und schwitze gleichzeitig. Die Angst strömt durch meine Adern wie ein Gift, das sich in mir ausbreitet und mich lähmt. Großvater drückt, ein Tropfen macht sich entlang der Nadel auf den Weg nach unten. Wie ein Ungeheuer beugt sich mein Peiniger tief zu mir herunter, biegt grob mein Bein zur Seite und rammt die Nadel in meinen Schenkel. Um mich wird es schwarz. Ich höre auf zu atmen,bohre die Fingernägel in mein Fleisch. Dann ist alles vorbei, mein Großvater verlässt schwankend den Raum. Er hinterlässt den Geruch von Desinfektionsmittel und Bier. Tränen rinnen über meine Wangen. Sie jucken auf der Haut. Die Neonröhre glotzt kalt und dumm von der Decke. Ich sinne auf Rache. Der Instrumententisch neben meinem Kopf war früher wohl mal weiß lackiert. Heute ist die Oberfläche vergilbt und übersät mit vielen abgeplatzten Stellen. Voller Lust schiebe ich meine Fingernägel unter den Lack, einen nach dem anderen, bis er bricht. Die hässlichen Roststellen werden größer. Nach jeder Spritze ein bisschen mehr. Als ich die Beine bewege, kleben sie an der Gummiunterlage fest, ich ekle mich und springe mit einem Satz von der Liege. Ich sammle meine Kleider ein und laufe ins Bad.

D as Leben bei meinem Großvater ist ziemlich abwechslungsreich. Neben der Arbeit in der Praxis nimmt Mama wieder Gesangsunterricht. Sie hat eine wunderschöne Stimme, und man sagt ihr eine große Opernkarriere voraus. Ich fiebere den Gesangsstunden entgegen, denn ich darf immer mitkommen. Schon das Treppenhaus ist erfüllt von Musik. Wir müssen nicht klingeln, die Tür ist nur angelehnt. Frau Miaceck spielt Klavier. Die Locken hüpfen um ihr Gesicht, und ihr kleiner runder Körper hüpft mit. Alles an Frau Miaceck ist rund. Das Gesicht, die Augen, die Nase, der Mund, die Locken, die Arme … Noch nie habe ich sie an einem anderen Ort gesehen als auf ihrem Klavierhocker. Wahrscheinlich schläft sie auch dort! Wenn Mamas Stimme erklingt, wird es ganz hell. Sie leuchtet von innen heraus wie eine Laterne. Ich traue mich kaum zu atmen. Manchmal bringt mich ihr Gesang zum Weinen. Gegen Ende der Stunde kann ich nicht mehr stillsitzen, rutsche unruhig auf dem Stuhl hin und her, kann es nicht erwarten: das winzige kaum erkennbare Nicken der Lehrerin. Dann springe ich auf, stelle mich aufrecht neben den Flügel, und mit der Ernsthaftigkeit einer Opernsängerin singe ich Mamas Arien nach.
    Nach den Gesangsstunden haben wir keine Lust, gleich nach Hause zu gehen. Wir schlendern durch den Englischen Garten, steigen die vielen Stufen hoch in den Chinesischen Turm und
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