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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition)
Autoren: Pola Kinski
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Sogar Name und Adresse sind mehrmals unterstrichen. Mama öffnet erwartungsvoll den Umschlag und liest wie gewohnt laut vor: »Mein Engel !!!!!!!!!!!!!!!! Die Kloakenschweine vom Burgtheater wollen mir immer noch keinen festen Vertrag geben! Diese Naziverbrecher !!!!!! Du musst für mich zum Residenztheater gehen und zum O. W. Fischer. Du musst sie beschwören!!! Du musst ihnen sagen, dass ich ein Genie bin. Ich bin ein Genie !!!!!!!!! Ich bin der Messias, der dem Theater seine wahre Bestimmung zurückbringt !!!!!! Mach das jetzt sofort,geh sofort hin !!!!!!!!! Du musst das tun, für mich !!!!! Und küsse das heilige Kindlein von mir, und sage ihm, dass ich ihm die ganze Welt kaufen werde, wenn diese Idioten, diese Analphabeten, diese Kretins endlich erkennen, dass ich der Größte bin, und mir einen Vertrag geben.«
    Mama liest den Brief immer wieder, so als würden die Zeilen ihr etwas sagen wollen, das sie noch nicht begriffen hat. Ich habe das Gefühl, es geht um Leben und Tod. Um sein Leben und seinen Tod. Ich laufe hinaus auf die Terrasse und verscheuche die Tauben von meinem Fahrrad.

A m Residenztheater wird ein kleines Mädchen für die Rolle des Kindes in Pagnols Die Tochter des Brunnenmachers gesucht. Mamas Freundin Therese, die dort als Bühnenbildnerin arbeitet, stellt mich dem Regisseur vor, und ich werde sofort engagiert. Ich bekomme ein wunderschönes Kleid genäht mit vielen Spitzen, Rüschen und Stoffschichten übereinander. Sogar einen Strohhut mit einem blauen Ripsband darf ich tragen. Ich fühle mich wie eine Prinzessin. Das Stück wird jeden Abend gespielt. Es ist immer sehr spät, wenn Mama und ich zu Fuß nach Hause laufen.
    Die Schauspieler behandeln mich wie eine Puppe, tragen mich von einer Garderobe in die nächste. Ich werde auf Schminktische gestellt, frisiert, vor dem Spiegel gedreht. Sie zupfen an meinem Kostüm, kitzeln mich und albern mit mir herum. Ich komme mir wahnsinnig wichtig vor und werde übermütig.
    Eines Abends schleiche ich in einer Szene, in der ich nichts verloren habe, an den Schauspielern vorbei ganz nach vorne und stolziere am Bühnenrand auf und ab. Während hinter mir gespielt wird, erzähle ich dem Publikum meine Geschichte: »Wenn meine Mama und mein Papa zusammen im Bett liegen, dann wollen sie mich loswerden und schicken mich aus dem Haus. Ich streune durch die Straßen, lass mir vom Bäcker eine Brezel, vom Metzger ein Würstchen geben und sage ihnen, dass Mama später zahlt!« Der Zuschauerraum bricht fast auseinander vor Gelächter. Gerne hätte ich weitergeplappert, aber der aufgebrachte Inspizient zieht mich sehr bestimmt von der Bühne. Während einer anderen Vorstellung schließt sich plötzlich der Vorhang, weil ich sämtliche Knöpfe im Bedienungskasten ausprobiere, als keiner auf mich aufpasst.
    Heute Abend wird das Stück leider zum letzten Mal gespielt. Beim Schlussapplaus mache ich brav den Knicks, den ich gelernt habe, strecke dem Publikum aber lang und breit die Zunge raus. Dann lasse ich die Hände los, die mich rechts und links halten, laufe nach hinten und taste mich durch die Dunkelheit. Herunterhängende Stoffbahnen schlagen mir ins Gesicht. Mich gruselt, ich denke an Fledermäuse. In einer Ecke setze ich mich auf eine Kiste. Die Schauspieler gehen nacheinander ab, der Applaus verebbt. Nur noch vereinzeltes Klatschen ist zu hören und die Geräusche der Zuschauer, die das Theater verlassen. Von einer Sekunde zur anderen ist alles Leben verschwunden. Irgendwo summt ein Scheinwerfer, ich lausche ihm nach. Warum muss ich weg von diesem Ort, ich fühle mich hier zu Hause.
    Abrupt werde ich aus meiner Traurigkeit gerissen. Das Theater ist taghell, alle Scheinwerfer schießen gleichzeitig ihr Licht auf die Bühne. Arbeiter strömen von allen Seiten herbei, ziehen Kabel hinter sich her, schieben Möbel, zerren das Bühnenbild auseinander. Mamas strenge Stimme lässt mich aufspringen. Der Zauber ist zerstört. Ich beeile mich, zu ihr zu kommen: »Wo bist du gewesen?«, fährt sie mich an. »Man sucht dich überall! Mach jetzt! Lass dich umziehen! Die Leute wollen nach Hause!« Aber die Garderobenfrau ist mir gar nicht böse, sie zieht mir behutsam das Kleid aus. Zum Abschied drückt sie mich an ihren dicken Busen und streichelt mich: »Du wirst mir fehlen, Kleine!« Dann bekomme ich noch einen festen Kuss auf jede Wange. Alle Schauspieler kommen, umarmen mich, manche haben Tränen in den Augen. Ich weiß nicht, ob ich weinen soll.
    Ich habe keine
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