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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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seinen Augen auf, Erinnerungen an etwas, das er hatte längst vergessen wollen.
    Franz Kimmler war eingenickt. Die Batterien des Radios hatten den Geist aufgegeben, und fast gleichzeitig war er in dem alten Stuhl eingeschlafen. Zu viel von dem selbstgebrannten Kartoffelschnaps. Seit dem Tod seiner Frau trank er zu viel (sie hatte es gehasst und seinen guten Schnaps mit Wasser verdünnt). Vier Jahre war das nun schon her. Oder waren es fünf? Eines Tages war sie mit unerträglichen Schmerzen aufgewacht, da hatte sich der Krebs schon in ihren Unterleib gefressen. Natürlich hatten die Ärzte in München Hoffnungen gemacht, aber Franz war kein Idiot. Er traute keinem Arzt. Keinem einzigen. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als könne sie es schaffen. Die Chemotherapie schlug an, die Metastasen im Kopf wurden kleiner. Oder lag es an der Bestrahlung? Er konnte sich nicht mehr recht daran erinnern. Aber dann, von einem Sommer auf den nächsten Herbst, kam der Krebs zurück wie eine verschleppte Grippe. Dann ging alles sehr schnell. Ihr Körper konnte nicht mehr, und ihr Geist nahm Abschied.
    Jetzt, in der Abstellkammer kauernd und mit wild pochendem Herzen wartend, fiel es ihm wieder ein. Sie hatte von Benjamin gesprochen, immer und immer wieder.
    »Er soll sich die Hände waschen, ja?«, hatte sie zu ihm gesagt. »Ist er immer noch draußen? Ist es nicht zu spät für Kinder da draußen?«
    »Wir haben keine Kinder«, hatte Franz den Schwestern im Krankenhaus erklärt und versucht zu lächeln.
    Wir haben keine Kinder.
    »Papa?«
    Die Treppe knarzte. Kleine, schleppende Tritte nasser Schuhe.
    Das gesamte Untergeschoss stand unter Wasser, mit Lehm und Sand vermengt. Noch vor ein paar Stunden hatte Franz sich Gedanken über den Teppichboden gemacht. Jetzt war er ihm egal.
    Er war mit einem merkwürdigen Traum aufgewacht, keine fünf Minuten war das her. Oder waren es Stunden?
    »Du hast gesagt, wir gehen spielen!« Die Worte klangen wie ein Gurgeln, als hätte sich der Junge verschluckt. Er kam näher. »Wir gehen im Wasser spielen, hast du gesagt. Hast du gesagt. Hast du gesagt!«
    In Franz’ Kopf formten sich Bilder: Ein heißer Sommertag in den späten Siebzigern. Er und ein Junge standen am Ufer des Grünen Sees. Der Junge trug eine rote Badehose, seine Haut war ungewöhnlich blass. Die Schatten der Äste malten ein Muster auf seinen Rücken, unbeweglich, wie tätowiert, denn die Luft stand still.
    »Und Hopp! Rein! Na los, du kleiner Scheißer!«
    Der alte Holzsteg morsch, die groben Kiesel am Grund glattgeschliffene Augen, die zu ihnen empor sahen.
    Franz konnte nicht schwimmen. Er hasste Wasser. Deshalb hatte er auch keine Badehose an, sondern trug seine dunkelblaue Arbeitshose und eines der gestreiften Hemden, die ihm seine Frau gekauft hatte. In seinen Hosentaschen klimperten die kleinen Schnapsflaschen, Mädchenflaschen, wie er sie nannte. Drei davon hatte er schon getrunken, was nicht hieß, dass er betrunken war. Eigentlich fühlte er sich sogar ziemlich nüchtern, viel zu nüchtern für das, was dieser Tag bringen sollte.
    Der Junge zögerte. Trotz seiner neun Jahre konnte er immer noch nicht vernünftig schwimmen. In der Schule lachten sie ihn aus, und eigentlich hatte er von seinem Vater erwartet, er würde die anderen Jungs dafür schimpfen. Stattdessen hatte dieser nur gesagt: »Scheißer, mit dir hat man nur Ärger. Jesus Christus, nur Ärger, den ganzen lieben Tag lang.«
    Und jetzt standen sie hier. Franz und sein Sohn. Benjamin.
    Die Sommerferien waren noch ein paar Wochen entfernt, aber die Luft war schon so heiß, dass jede Anstrengung schwerfiel.
    Benjamin blickte zu seinem Vater auf, ein großer Schatten, die pralle Nachmittagssonne hinter ihm. »Können wir wieder heimgehen?«
    »Heimgehen? Du hast doch rumgejammert,
ich kann nicht schwimmen, ich kann nicht schwimmen, ich kann nicht schwimmen
!« Franz äffte ihn nach, seine Stimme viel zu hoch und schrill.
    In Benjamins Augen schossen Tränen. Er nickte.
    »Also? Wird das heute noch was?«
    Benjamin holte tief Luft und sah seinen Vater an. »Gleich, Papa.«
    Franz stöhnte, nahm eine weitere Mädchenflasche und leerte sie mit einem Schluck. Von der Scheißhitze bekam er Kopfschmerzen.
    Der Junge stand immer noch am Ufer, seine Zehen zögerlich ins Wasser gestreckt, umschwemmt vom klaren Wasser des Sees, und dann ...
    In der Abstellkammer war es eng und dunkel, es roch nach ranzigem Essigreiniger. Franz kniete auf dem kalten Boden, sein Atem war
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