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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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flach.
    Finger kratzten an der Tür.
    »Ganz, ganz, ganz weit hinaus geschwommen«, flüsterte der Junge.
    Franz versuchte sich zu erinnern, aber so sehr er sich auch bemühte, die Bilder kamen nicht wieder. Allein unscharfe Fragmente, zerrissene Episoden.
    Dann ging die Tür auf.
    Vom Flurfenster mit der gesprungenen Scheibe drang ein wenig Helligkeit herein. Natürlich erkannte er den Jungen. Seinen Jungen.
    Benjamin streckte seine kleine, vom Wasser aufgedunsene Hand aus. »Am Seegrund ist es wunderschön. Dort gibt es Walfische, Papa. Sie warten auf dich, schon so lange. Große, hungrige Walfische.«
    Franz Kimmler gab keinen Ton von sich, als ihn der Junge mit einem kräftigen Ruck aus der Abstellkammer zerrte.
    Benjamin betrachtete die vor Angst geweiteten Augen seines Vaters, auf den eisblauen, verquollenen Lippen ein Lächeln.
     
    Die Fabrikhalle war riesig, längst eingeschlafene Maschinen, auf denen sich fingerdicker Staub gesetzt hatte. Von der Decke hingen zahlreiche kaputte Glühbirnen, die vor langer Zeit einmal Licht und Wärme gespendet hatten. Der Regen bemalte die großen Glasscheiben.
    Es waren mindestens vierzig Kinder, die meisten hielten Kerzen in der Hand. Sie trugen Schlafanzüge, schnell übergeworfene Jacken, einige von ihnen trugen keine Schuhe, nackte Füße auf kaltem Beton. Ein Mädchen weinte laut, ein anderes legte seinen Arm um sie und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Beide nickten.
    »Wir dachten, du würdest nicht mehr kommen«, sagte der Junge und lächelte.
    Karla kannte ihn aus der Schule, wie auch die meisten Kinder hier. Einige waren noch zu jung, um in die Schule zu gehen. Die großen Brüder und Schwestern hielten sie an der Hand, sangen leise. Zwischen den Schatten ein Mädchen, kaum älter als Karla, die ihre Schwester in den Armen wiegte wie ein Baby.
    Ein Junge wickelte ein belegtes Brot aus der Verpackung, roch daran und biss hinein. Ein anderer Junge faltete eine graue Decke auseinander und hüllte sich damit ein. Eines der jüngeren Mädchen schlief zusammengekauert auf einer Decke, die Beine angezogen. Ein anderes strich ihr übers Haar, schickte leise Worte in ihre Träume. Dort und da müde Augen, ungekämmte Haare.
    Der Junge mit der Kerze setzte sich auf einen Mauervorsprung und beobachtete den Himmel durch die weinenden Fensterscheiben. Dann stellte er die Kerze auf dem Boden ab, öffnete das Buch, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und strich über eine der Zeichnungen. Tom Sawyer und Huckleberry Finn, seine Helden, würden ihn auch in dieser Nacht nicht im Stich lassen.
    Sein Blick suchte Karlas Augen. »Ich bin Tom.«
    Karla nickte.
    Drei Blitze in rascher Abfolge erhellten die Dunkelheit.
    »Wir haben Essen und Trinken hier. Belegte Brote und Milch. Auch Wasser, ein paar Fertiggläser für die Kleinen. Decken. Kerzen. Und natürlich Bücher. Geschichten. Das Wichtigste.«
    Karla sah sich um. Stofftaschen mit geschmierten Broten, Kartons mit Milchtüten, zusammengelegte alte Decken mit Mottenlöchern, stapelweise Bücher.
    »Hast du das alles hergebracht?«
    »Nein. Niemand von uns«, sagte Tom.
    »Wer dann?«
    Tom zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Jemand, der es offensichtlich gut mit uns meint.«
    »Ich habe Kinderstimmen gehört, da draußen. Sie klangen anders, nicht so wie eure. Sie waren ...«
    »Unheimlich?«
    »Ja.«
    Tom blickte wieder durch die großen Fenster nach draußen. Seine schwarzen Haare ungekämmt und nass. Er war vierzehn, in diesem Moment aber ein erwachsener Mann.
    »Sie leben nicht mehr.«
    »Sie sind tot?«
    »Ja, tote Kinder. Tote Kinder der Stadt, jedenfalls glauben wir das. Einige von uns haben es geträumt, die letzten Nächte. Andrea glaubt sogar, ihren Bruder da draußen gesehen zu haben. Dabei hat sie keinen Bruder, behauptet sie. Die meisten von uns sind Einzelkinder. Oder glauben es zu sein. Wer weiß das schon. Mein Großvater hat immer gesagt, in der Allerheiligennacht muss man aufpassen, dass die Toten nicht aus ihren Gräbern steigen und uns besuchen kommen.«
    Karla nickte. Davon hatte sie auch schon gehört.
    Ein kleines Mädchen lief an ihr vorbei, in viel zu großen Schuhen, und streifte ihre Beine.
    »Du bist das Allerheiligenmädchen«, sagte Tom.
    »Das was?«
    »Das Allerheiligenmädchen. Die Königin der Nacht. Unsere Königin.«
    »Was redest du da?«
    Die Regentropfen vermengten sich mit Eiskristallen, die an dem Glas der Fenster scharrten.
    »Du glaubst mir nicht? Dann komm!«, sagte Tom,
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