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Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

Titel: Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
Autoren: Richard Lorenz
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zurückgezogen. Nach dem großen Unwetter zwischen den Monaten war nichts mehr so wie zuvor. Der Regen setzte aus, der Himmel riss an manchen Stellen auf und zeigte bleierne Wolkenspuren. Ein Frühnebel blieb. Aus den Kaminen kamen dort und da helle Rauchzungen. Ängstliche Gesichter, die aus den Fenstern blickten, Köpfe, die durch Türspalten lugten.
    Frank ging am späten Vormittag des 1. November nach unten. Nachts, weit nach Mitternacht, hatte er die Kinder gehört, ihre Schritte auf dem Wasser, ihre Gesänge, ihr Murmeln und Flüstern. Dabei hatte er an früher denken müssen, an die Zeit, in der er selbst ein Junge gewesen war und oft geglaubt hatte, draußen, zwischen den Bäumen, etwas gehört zu haben, etwas, für das es keinen Namen gab.
    In der vergangenen Nacht war er drinnen geblieben. Er hatte das Fenster geschlossen, die Vorhänge zugezogen und sich aufs Bett gesetzt. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er seinen toten Bruder gesehen, dort, zwischen Schrank und Tür, aber schon beim nächsten Augenniederschlag war er verschwunden, wie ein Gespenst, das nicht bleiben wollte.
    Natürlich hatte Frank die große schwere Holztür der Leichenhalle splittern hören. Aber es waren keine Schritte auf der Treppe gefolgt. Vielleicht spürten sie, dass er nur ein Mann mit verlorenen Träumen war, mehr nicht. Irgendwann war es still geworden, nur der Wind und der Regen waren zu hören.
    Frank hatte es geahnt. Deshalb erschrak er nicht, als er sie dort unten hängen sah. Sieben Männer am Dachbalken, um die Hälse dünne Seile, die sich in die Haut geschnitten hatten. Auf ihrer Brust Pappschilder. Mit roter Wachsmalkreide waren ihre Namen darauf geschrieben worden, und auch:
Wärter
,
Wächter
,
Aufseher
,
Totengräber
.
Väter
.
    Frank kannte sie alle. Die beiden Lehrer, den Bauern, den Lastwagenfahrer, den Maurer, den Arzt, den ehemaligen Buchhalter von Murrs Zigarettenfabrik.
    Herbstfliegen kreisten um ihre Leichname.
    Am Boden vier tote Frauen, die Nachthemden verrutscht, die geschwollenen Beine entblößt. Ausgeschnittene Papierherzen auf ihren Brüsten, darauf geschrieben:
Mütter
.
    Frank ging nach draußen, suchte sich Wege zwischen den Wasserläufen. Die Luft war kalt, viel kälter noch als gestern. Das Licht war gleichgültig. Aus der nahen Kirche vernahm er Gebete. Er stapfte durch Lehm und Sand, die Winterkiesel knirschten unter seinen abgetragenen Schuhen.
    Anton
stand auf einem der Grabsteine, auf einem anderen
Anna
, zwei Steine weiter
Sebastian
und
Martin
. Frank erkannte die rote Farbe. Nie würde er sie vergessen, rot wie Blut.
    Das Morden hatte nie aufgehört, nur die Opfer waren andere. Andere Kinder. Die eigenen. Wer weiß, dachte Frank, vielleicht hatten sie seinen Bruder in das Getreidesilo geschickt und dann die Tür verriegelt und gewartet, bis seine Lungen voller Spreu waren.
    Er blieb stehen und sah einer Krähe nach, die über die Leichenhalle flog. Natürlich war er in Dachau gewesen, war durch die breiten Wege gegangen. Er hatte sich gefragt, wie man davon nichts gewusst haben konnte. Und wie man denen glauben hatte können, die das behaupteten. Die Krähe verschwand hinter den Weiden.
    Alles schien unwirklich, im Zwielicht verborgen. Die dunklen Strömungen der Zeit und ihre eigenen Tage vermengten sich. Nichts anderes als kränkelnde Herbstkatzen waren die Kinder gewesen, man schaffte sie fort, wurde sie los. Es war eine Seuche, die über die Stadt gekommen war, und für deren Opfer es keine Heilung gab.
    Frank berührte die Buchstaben, die rote Farbe war an manchen Stellen noch nicht einmal trocken. Niemals, dachte Frank, konnte jemand ganz vergessen sein.
    Dann sah er hinauf zum Murr-Haus. Dort, wo sie schliefen. Die Unvergessenen.
     
    Auch Christoph sah hinauf. Die Sturmböen hatten einen Teil vom Dach aufgedeckt, durch das Holzskelett konnte er mit Leintüchern abgedeckte Möbelstücke sehen.
    Das Löwenzahnfeld hatte das meiste Wasser aufgesogen. Immer noch musste er an seine Schwester denken, die dort gestanden hatte. Die er gerne berührt hätte, für immer und ewig, für alle Zeit.
    Das Unheil war über die Stadt gekommen.
    Auf seinem Schreibtisch lag ein kleiner Stapel Papier, drei Erzählungen. Gib dem Unglück einen Namen, dachte er sich und lächelte ein wenig.
    Das meiste davon hatte er in den vergangenen Nächten geschrieben, über Sara, Robert und Alfons. Hatte sie gespürt, wie man Menschen spüren kann, wenn man sie liebt, egal auf welche Weise. Natürlich liebte
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